Liberalismus
A: lībrālīya. – E: liberalism. – F: libéralisme. - R: liberalizm. – S: liberalismo. – C: ziyouzhuyi 自由主义
Janna Thompson (MK) (I.), Paolo Ercolani (AU) (II.)
HKWM 8/I, 2012, Spalten 1036-1059
I. L steht aus der Sicht seiner Verfechter für Toleranz, die Freiheit des Individuums, die Abschaffung von Privilegien, Aufklärung und gesellschaftlichen Fortschritt. Er wurde nicht nur zur vorherrschenden politischen Weltanschauung in den westlichen Ländern, sondern auch von den gebildeten Eliten in vielen nicht-westlichen Ländern begeistert aufgenommen. Er ging in den Menschenrechts-Diskurs der Vereinten Nationen ein und wurde zum moralischen Bezugspunkt für viele staatliche und nichtstaatliche internationale Institutionen. Er spaltete sich in unterschiedliche, z.T. gegensätzliche Strömungen, wurde benutzt, um den Imperialismus zu legitimieren und zu bekämpfen, den Wohlfahrtsstaat zu unterstützen und ihm entgegenzutreten, den Freihandel zu begründen und seine Regulierung zu fordern. Er manifestiert sich als Kosmopolitismus und verbündet sich mit nationalistischen Bewegungen. Er ist beides, Feind und Verbündeter des Sozialismus, des Feminismus und des Post-Kolonialismus. Diejenigen, die sich als ›anti-liberal‹ bezeichnen, sind meistens Liberale anderer Art.
Die verschiedenen Strömungen stimmen jedoch in zwei Lehren überein. Die erste stellt das Individuum in den Mittelpunkt der Ethik und der Ontologie. Liberale sind nicht bloß Individualisten, weil sie glauben, die Förderung der Integrität, der Interessen, der Autonomie und des Glücks des Individuums sei das Ziel der Ethik und der Politik. Sie glauben auch, dass Individuen von Natur aus unabhängig und selbstbestimmt sind. Freiheit ist von Wert, weil sie Individuen befähigt, ihre Interessen zu bestimmen und zu verfolgen. Liberale vertreten die von Marx in ThF 6 kritisierte Auffassung, dass »das menschliche Wesen […] dem einzelnen Individuum« innewohnt (…). – Der zweite Lehrsatz des L behauptet die Gleichheit der Individuen als selbstbestimmt Handelnder, v.a. vor dem Gesetz. Ein liberaler Staat soll alle Individuen gleich behandeln, indem er ihnen gleichen Schutz durch das Recht gewährt und keine Klasse oder Gruppe begünstigt.
Marxisten kritisieren diese Grundsätze nicht, indem sie den Wert von Freiheit oder Gleichheit bestreiten. Sie beschränken sich auch nicht, wie viele Liberale, auf die Feststellung, dass diese Werte in der kapitalistischen Gesellschaft im Widerstreit stehen. Ihre zentrale Kritik ist, dass das liberale Konzept des Individuums irreführend ist. Individuen sind keine unabhängigen, selbstbestimmten Subjekte. Sie stehen in gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie bis zu einem bestimmten Grad aktiv verändern können. Das eigennützige Individuum, Zentrum der liberalen Philosophie, ist in Wirklichkeit das bürgerliche Individuum, ein Produkt kapitalistischer Verhältnisse, deren Herrschaftscharakter verkleidet und gerechtfertigt wird.
Marxismus und L beziehen sich positiv auf menschliche Gleichheit, individuelle Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Fortschritt, obwohl sie diese unterschiedlich interpretieren. Beide erhielten Anstöße durch die Französische Revolution, beide sehen sich in Gegnerschaft zu Konservatismus, Faschismus und religiösem Fundamentalismus. Diese Gemeinsamkeiten führten zu einer fortgesetzten Debatte unter Marxisten, ob und in welchem Ausmaß sie im Kampf gegen reaktionäre Kräfte mit Liberalen gemeinsame Sache machen sollten.
II. [Es wurde zumeist] ein widerspruchsfreies Bild der liberalen Tradition gezeichnet, die der jakobinisch-sozialistischen im Kampf um die Vorherrschaft über die westliche Welt unerbittlich gegenübersteht. Während jene die Trägerin der Freiheiten und Rechte ist, deren sich die westlichen Demokratien erfreuen, zeigt die letztere eine totalitäre Machtzentriertheit, deren gesellschaftliche Ziele scheitern müssen. Allein die »liberale Gesellschaftsideologie« im Verein mit dem Kapitalismus hat, so Ludwig von Mises, »die Grundlagen geschaffen, auf denen alle jene Wunderwerke ruhen, die das Kennzeichen unserer modernen Lebenshaltung sind« (1927). Mises’ Schüler Friedrich August von Hayek, von vielen als der bedeutendste Liberale des 20. Jh. angesehen, geht noch weiter: »auch wenn materielle Gleichheit mit liberalen Methoden nur in begrenztem Rahmen erreichbar ist, bleibt der Kampf um formale Gleichheit, d.h. gegen alle Diskriminierungen aufgrund sozialer Herkunft, Nationalität, Rasse, Religion, Geschlecht, usw. das Wesensmerkmal liberaler Tradition« (1973/2002, GS, A.5). […] - Wie Domenico Losurdo gezeigt hat, »sind die Verdienste des L zu wichtig und zu offenkundig, als dass es notwendig wäre, ihm andere, ganz imaginäre anzudichten« (2005/2010). Deshalb sollte man die Heiligenbilder, die seine enthusiastischen Exegeten von ihm zeichnen, beiseite lassen und zu den zentralen Aussagen vordringen, ohne deren Widersprüche zu vernachlässigen.
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