Lohnarbeit

A: al-ʽamal al-ma’ǧūr. – E: wage-labour. – F: travail salarié. – R: naėmnyj trud. – S: trabajo asalariado. – C: gùyōng láodòng 雇佣劳动

Bernd Röttger (I.), Klaus Dörre (II.)

HKWM 8/II, 2015, Spalten 1298-1319

I. L bezeichnet im marxschen Denken eine »spezifische, historische Form der gesellschaftlichen Arbeit« (TM, 26.3/255), eine Form der zunächst »von allen Gesellschaftsformen unabhängigen Existenzbedingung des Menschen«: der Organisation des »Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur« (K I, 23/57). Marx entwickelt schrittweise seinen Begriff der L »in ihrer spezifischen Formbestimmung im Gegensatz zum Kapital« (Gr, 42/248). In Gotha spricht er von einem in der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise herausgebildeten »System der L«, von einem Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, unter denen sich die Verausgabung lebendiger Arbeit zwangsweise als L vollziehen muss und die »Sklaverei […] im selben Maß härter wird, wie sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere Zahlung empfange« (19/26). In seiner KrpÖ entwickelt er einen »ganzen Umkreis von historischen Bedingungen« (Ms 61-63, 43/104; vgl. 23/181ff), unter denen sich die Verwandlung der Arbeit in L als »Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion« (23/183) vollziehen konnte. Zwar existierte auch in vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen L; sie bildete aber eine »Ausnahme«, war »Nebenbeschäftigung«, »Durchgangspunkt« (Engels, Utopie, 19/214). Erst mit der Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsweise wird sie zur Regel: die Arbeitskraft nimmt für den Arbeiter »die Form einer ihm gehörigen Ware« an, »seine Arbeit daher die Form der L« (23/184, Fn. 41). Die Verwandlung der »Volksmasse in Lohnarbeiter« bezeichnet Marx als »Kunstprodukt der modernen Geschichte« (788).

Das Entschlüsseln des Prozesses, in dem sich in den Gesellschaften L sukzessive durchsetzt, bildet einen Kern der marxschen Theorie der L: Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft werden als Ergebnis der Umwälzung »historischer Bedingungen« analysiert, in dessen Konsequenz sich die Existenzform des »freien Arbeiters« verallgemeinert, »frei in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, dass er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen« (183). Marx entschlüsselt zudem die Spezifik der Ware Arbeitskraft, »kapitalsetzend, kapitalproduzierend« (42/375) wirken zu können, und hebt so die L in den Rang einer Existenzbedingung kapitalistischer Mehrwertproduktion. Er erfasst, dass »der Übergang des Grundeigentums in die L nicht nur dialektisch, sondern historisch« darzustellen ist und »das allgemeine Setzen der L« schließlich »als Basis der ganzen Scheiße« begriffen werden muss (an Engels, 2.4.1858; 29/312). In L sieht Marx »die letzte Knechtsgestalt, die die menschliche Tätigkeit« (42/642) annimmt.

II. Im Zuge kapitalistischer Entwicklung hat die L zahlreiche Metamorphosen durchlaufen, die kontrovers diskutiert wurden und werden. Aus neodurkheimianischer Perspektive hat Robert Castel diese Metamorphosen als zeitweilige Überwindung und spätere Wiederkehr »unwürdiger L« (2011, 63) beschrieben. Als »unwürdig« galt L, weil mit ihrem abstrakten Charakter zwar ihre allgemeine gesellschaftliche Nützlichkeit anerkannt wurde, Lohnarbeiter jedoch keinen über soziale Rechte abgesicherten Status erhielten (66). Dies änderte sich in dem Maße, wie eine subdominante politische Ökonomie der Arbeit (Arbeiterbewegungen) über spezifische Öffentlichkeiten auf die Institutionalisierung der L einwirkte (Negt/Kluge 1972). Lohnarbeiter besetzten als Produzenten den öffentlichen Raum; der Arbeiter wurde zur öffentlichen Person. Mit der Herausbildung moderner Wohlfahrtsstaaten, der Inkorporation von Lohnarbeitermacht und der Institutionalisierung sozialer Rechte veränderte sich die gesellschaftliche Bedeutung der L. Entgegen der marxschen Prognose verwandelte sich L in den kapitalistischen Zentren in eine gesellschaftliche Integrationsmaschine. Vor allem qualifizierte männliche Lohnarbeiter und ihre Familien verfügten nun über »Sozialeigentum« (Castel 2005, 41ff), ein Eigentum zur Existenzsicherung (Tarifverträge, Rente, Mitbestimmung, Krankenversicherung usw.), das nunmehr all jenen zur Verfügung stand, die zuvor nicht über Eigentum abgesichert waren. In den Wohlfahrtsstaaten wurden Ansprüche an Sozialeigentum in unterschiedlicher Weise an die Ausübung von Erwerbsarbeit gekoppelt.

Die Institutionalisierung der L hatte weitreichende Auswirkungen auf die Lebensweisen arbeitender Klassen. »Unwürdige« L bedeutete, dass Lohnarbeiter ihr gesamtes Leben der Erwerbsarbeit unterordnen mussten. Erst die Durchsetzung sozialer Rechte ermöglichte die Trennung von Arbeitszeit und Freizeit. Die Konsolidierung ihrer Arbeitsbedingungen verhalf den Lohnabhängigen dazu, dass die Erwerbsarbeit nicht mehr völlig dominant war (Castel 2011, 66ff). Die Institutionalisierung eines auf L gegründeten »sozialen Bürgerschaftsstatus« (2005, 41) erreichte ihre Blüte während der langen Nachkriegsprosperität und der Etablierung des fordistischen Kapitalismus. Seit Mitte der 1970er Jahre vollzieht sich eine Gegenbewegung, die Castel (1995) als Wiederkehr sozialer Unsicherheit bezeichnet. Der abgesicherte Status von L wird sukzessive in Frage gestellt. Die Rückkehr sozialer Unsicherheit und prekärer Arbeit in die reichen Gesellschaften des globalen Nordens hat zur Aufspaltung in unterschiedliche »Zonen« sozialer Sicherheit (1995/2000, 360f; Castel/Dörre 2009, 15) und damit zu neuen Spaltungen der Lohnabhängigen geführt. Zu Beginn des 21. Jh. sind prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse auch in den entwickelten Kapitalismen wieder zu einer »normalen Organisationsform« der L geworden (Castel 2011, 136). Die ehemaligen kontinentaleuropäischen Sozialkapitalismen entwickeln sich zu »prekären Vollerwerbsgesellschaften« (Dörre u.a. 2013, 348), in denen Arbeitsmarktintegration sich in großem Ausmaß wieder über »unwürdige«, weil ihres sozialen Bürgerschaftsstatus beraubte L vollzieht.

Castel skizziert in groben Zügen eine Metamorphose der L, die sich primär in den entwickelten Kapitalismen des globalen Nordens vollzogen hat bzw. vollzieht. Sein Grundriss bleibt jedoch selektiv und spart wichtige Veränderungen der L aus, die in der marxistischen Theorieentwicklung innovativ bearbeitet worden sind. Exemplarisch lässt sich das anhand von sechs Diskurssträngen zeigen.

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l/lohnarbeit.txt · Zuletzt geändert: 2018/03/07 17:09 von flo     Nach oben
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