Kultur
A: ṯaqāfa. – E: culture. – F: culture. – R: kul’tura. – S: cultura. – C: wenhua 文化
Wolfgang Fritz Haug (I.), Dietrich Mühlberg (II.)
HKWM 8/I, 2012, Spalten 276-336
I. »Für was drein geht und nicht drein geht, / Ein prächtig Wort zu Diensten steht«, lässt Goethe den Mephisto sagen (Faust, I, Studierstube). Als ein solches Wort begegnet ›K‹ im Kapitalismus. Unter dem seit den alten Römern immergleichen, der Agrikultur entlehnten Wort bewegten sich die Bedeutungen in der Geschichte der Gesellschaftsformationen, schlugen schließlich um ins Gegenteil und drängeln sich seither spätkapitalistisch im »großen Durcheinander zwischen Kyffhäuser und Kaufhäuser«, das Karl Kraus 1915 heraufziehen sah, wo, »da man auf keine Weise wissen kann, was K ist, alles es ist und nichts es ist« (Vargas Llosa 2012). In der Alltagssprache fungiert ›K‹ als ein von diffus leuchtenden Versprechungen überzogener verbaler Baldachin über einem chaotischen Gedränge verschiedenartigster Bedeutungen. Am einen Pol umfassen sie Kunst und Literatur, am Gegenpol die faktische Lebensweise einer Gesellschaft.
Mehr als bloßes »Summenwort«, wie Fritz Mauthner den Ausdruck ›K‹ eingestuft hat (1910/11), ist ›K‹ eine Kategorie im genauen marxschen Sinn dieses Begriffs: Ausdruck von »Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelner Seiten dieser bestimmten Gesellschaft« (Einl 57). Doch fragt sich, wie jene chaotische Mannigfaltigkeit spontan als Einheit empfunden werden kann, wie sich in einer so konfusen Kategorie Existenzbestimmungen der kapitalistischen Gesellschaft ausdrücken können und welche Bewandtnis es mit ihrer Leuchtkraft, dem Versprechen eines besseren Lebens, hat. Zu zeigen ist, dass die widersprüchliche Kategorie Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche ist.
Anders als die ökonomischen Kategorien unterzieht Marx die Kategorie ›K‹ nicht der Kritik, um sie in einen geschichtsmaterialistischen Begriff zu überführen. Stattdessen treten bei ihm die im Wort ›K‹ diffus mitbedeuteten Gehalte – wie die Lebensweise oder die höheren Disziplinen des Wissens und Gestaltens – unter ihren je eigenen Namen und in ihrer jeweiligen Eigenlogik auf. Sein Interesse gilt den Praxisformen und Vergegenständlichungen im Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse unterm Gesichtspunkt der menschlichen Entwicklung. Zwar sieht er in den »materiellen Produktionsbedingungen die Bedingungen der K als solcher« (26.1), doch verweigert er sich der Subsumtion des auf dieser Grundlage vielfältig Hervorgebrachten unter den Einheit stiftenden Namen der ›K‹. Im Gegensatz dazu haben später die Hauptströme des Marxismus die K-Diskurse des Bürgertums mit dem Anspruch aufgenommen, die nur als Beute oder Fassade kapitalistisch mitgeführte ›K‹ als wirkliches Worumwillen freizusetzen und die den bürgerlichen Bildungsschichten vorbehaltene allen Menschen zugänglich zu machen. Sie verstanden sich als »K-Bewegung« und damit als rettende Erben der bürgerlichen K. Doch so trat auch der Faschismus auf, zumal in der radikalisierten Form des deutschen Nazismus, in dessen Propaganda »wohl kaum ein Schlagwort […] neben Begriffen wie ›Rasse‹ oder ›Volk‹ so oft auftaucht wie der Begriff der ›K‹« (Hermand 2010). Angesichts der K-Ideologie, für die ›K‹ über der Gesellschaft schwebt, bleibt die marxsche Übersetzung ihrer Gehalte in die Verhältnisse der gesellschaftlichen Individuen aktuell.
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II. Aus der Perspektive einer »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (Manifest), ergibt sich der Maßstab, an dem sich Überlegungen zur K in sozialen Bewegungen und Parteien messen lassen. Die konkrete Entwicklung der Vorstellungen von K im Marxismus wird sowohl von unterschiedlichen Interessen innerhalb der Arbeiterbewegung und später der sozialistischen Staaten als auch von Wechselbeziehungen zum bürgerlichen K-Diskurs beeinflusst.
In den Anfängen der Arbeiterbewegung – in Deutschland aus bürgerlichen Arbeiterbildungsvereinen hervorgegangen – dominiert zunächst das ›enge‹ K-Verständnis. Schon die flüchtige Lektüre der einschlägigen Schriften von Ferdinand Lasalle, August Bebel, Wilhelm Liebknecht oder Wilhelm Bracke zeigt, dass die Kritik der kapitalistischen Ausbeutung und sozialen Unterdrückung der arbeitenden Massen sich von vornherein mit der Skandalisierung kultureller Ausgrenzung verbindet. Otto Rühle hierzu: »Alle Schrecken der proletarischen Umwelt werden erst ihr Ende finden, wenn das Proletariat ihnen selbst ihr Ende bereitet […], indem es aber diesen Kerker sprengt, gewinnt es den Weg zu seiner eigenen Welt. Er führt zu den Höhen sozialistischer K.« (1930)
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