Lehrbuchmarxismus
A: kitāb al-ta 'līmī lil-marksīya. – E: textbook Marxism. - F: marxisme de manuel. – R: učebnyj marksizm. - S: marxismo de los manuales. - C: jiaokeshushimakesizhuyi 教科书式马克思主义
Ruedi Graf
HKWM 8/I, 2012, Spalten 858-885
Unter L wird allgemein die in Lehrbuchform gebrachte, für die noch subaltern gehaltenen Klassen als Träger der Emanzipationsbewegung aufbereitete Form marxistischer Theorie verstanden. In dieser Allgemeinheit bezeichnet der Ausdruck aber eher eine Problemlage. Er wurde und wird daher sowohl emphatisch in der Bedeutung ›richtiger Marxismus in Lehrbuchform‹ verwendet wie kritisch zur Bezeichnung einer depravierten Form des Marxismus gebraucht, wie er sich im Gefolge des ML herausgebildet hat. In der Folge wird er gar zum polemischen Begriff zur Bezeichnung bzw. Diffamierung eines unkritisch-dogmatischen Marxismus. Diese unterschiedliche Verwendungsweise verweist nicht nur auf den problematischen Gehalt, sie ist auch Indiz dafür, dass mit dem Ausdruck L eine ganze Reihe von Problemen marxistischer Theorie angeschnitten werden. Mit ihm verbunden ist zunächst die Frage, was gelehrt werden soll, und damit die Frage des Gehalts des Marxismus sowie seines Status als Theorie. Aber ebenso dringlich stellt er die Frage nach dem Wie des Lehrens, womit u.a. die Fragen der Form des Lehrbuchs, der Lehrinstanz (Marxismus-Leninismus; Partei), von Verbreitung und Wirkung (Propaganda) und der Aufnahme bzw. des Lernens (Bildung; exemplarisches Lernen; Lernen) verbunden sind. In der Verknüpfung beider rückt schließlich auch das Theorie-Praxis-Verhältnis in den Fokus.
Obwohl L heute meist im Kontext eines Abgesangs auf eine depravierte Form des ML sowjetischer Prägung verwendet wird (vgl. Rauh 1996), soll er hier als ein geschichtlicher Fragekomplex behandelt werden, der Grundfragen der marxistischen Theorie berührt. Dabei soll stets der doppelte Anspruch im Auge behalten werden, den Marxismus aus dem Prokrustesbett seiner dogmatisierten Lehrbuchform zu befreien und als eine Theorie für eine umwälzende Praxis zu begreifen, die – damit sie die Massen erfasst – auch gelehrt werden muss.
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