Arbeiterkulturbewegung
A: ḥarakat al-ḥaḍāra al-ʿumālīya. – E: working class cultural movement. – F: mouvement pour une culture ouvrière. – R: dviženie za proletarskuju kul'turu. – S: movimiento cultural obrero. – C: gongren wenhua yondong
Frank Heidenreich
HKWM 1, 1994, Spalten 473-481
Bei den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus gibt es den Begriff A nicht. Vor allem Marx beurteilte die Möglichkeit einer proletarischen Kunst oder Kultur skeptisch. Zustimmend zitiert er 1875 den Gothaer Programmentwurf, in dem es heißt, in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelten sich »Armut und Verwahrlosung auf seiten des Arbeiters, Reichtum und Kultur auf seiten des Nichtarbeiters« (…). Marx und Engels unterschieden zwischen Kultur und Bildung, wobei Bildung eine doppelte Bedeutung hatte: im engeren Sinn meinte sie Bildung von Wissen, in einem weiteren die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstbefreiung der Unterdrückten. Von der deutschen Sozialdemokratie forderten Marx und Engels den Ausschluß solcher Akademiker, die behaupten, »daß die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien, und erst von oben herab befreit werden müssen« (…). Unterm Eindruck des Wachstums der deutschen Arbeiterpartei nach dem Vereinigungsparteitag 1875 war für Engels die selbständige Handlungsfähigkeit der Arbeiterklasse an die Konstitution einer eigenen politischen Kultur geknüpft: »eine Arbeiterklasse, die weder über eine Presse noch über Versammlungsmöglichkeiten, noch über Klubs oder politische Verbände verfügt, was kann sie anderes sein als der Schwanz der bürgerlich-radikalen Partei?« (…)
Die Politiker und Theoretiker der II. Internationale stimmen im Anschluss an Marx und Engels darin überein, dass es eine Kultur der Arbeiterklasse weder im Sinne der bestehenden proletarischen Lebensweise (vgl. Bebel 1879) noch im Sinne von Kunst geben könne. Historisch taucht der Begriff Arbeiterkultur in der politischen Theorie der Arbeiterbewegung erst während des Ersten Weltkriegs im Kontext sozialdemokratischer »Burgfriedenspolitik« auf. Er koexistiert mit dem älteren Konzept der »Arbeiterbildung«. In den 1920er Jahren verdrängte im deutschsprachigen Raum das Ideal einer Arbeiterkultur(bewegung) teilweise den Begriff der Arbeiterbildung. Kulturelle Praxis in der Arbeiterbewegung entwickelte sich bis 1933 in spezifischen und zugleich partikularen Formen: Arbeitersänger, Volksbühnen, Arbeitersport, Naturfreunde, proletarische Freidenker u.a.m. Gegen den heraufziehenden Faschismus zeigte sich das »sozialistische« Lager vergleichsweise da stabiler, wo die Arbeiterbewegung ein enges und weitverzweigtes sozialkulturelles Netz ausgebildet hatte. Über eine offensive hegemoniale Kapazität verfügte die nach innen gerichtete sozialdemokratische Vereinskultur indes nicht. Die Zerschlagung der A in Deutschland und Österreich 1933/34 leitete den ›volksgemeinschaftlichen‹ Abbau bzw. die Zerstörung der Zivilgesellschaft ein. Die nazistisch beherrschten, klassenübergreifenden Zwangsorganisationen sowie die Umwälzungen der Klassenstruktur im und nach dem Zweiten Weltkrieg hinterließen kulturelle Brüche, die den Ausgangspunkt für – die unterschiedlich motivierten – Entscheidungen von SPD und SED bildeten, die proletarischen sozialkulturellen Massenorganisationen größtenteils nicht wiederzugründen.
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