Linksradikalismus

A: rādīkālīya al-yasārīya. – E: left-wing radicalism. – F: gauchisme. – R: levizna. – S: radicalismo de izquierda. – C: zuǒpài jījìn zhǔyì 左派激进主义

Ralf Hoffrogge

HKWM 8/II, 2015, Spalten 1193-1207

L, auch »linker Radikalismus« oder als Gruppenbezeichnung »Linksradikale«, bezeichnet vornehmlich im sozialen Spektrum der Arbeiterbewegung, des Kommunismus und Sozialismus eine Form politischer Kritik und Praxis, die an die Wurzel (lat. radix) zu gehen beansprucht. Verwendung und Definition hängen davon ab, was im historischen Kontext als »links« oder »radikal« gilt. Vertreter des L beanspruchen eine unbedingt revolutionäre, grundsätzliche Kritik, die moderaten, auf systemimmanente Reformziele verkürzten Gesellschaftskritiken vorzuziehen sei. Er wurde und wird als Fremdbezeichnung jedoch auch zur Abgrenzung und bisweilen Diffamierung verwendet – innerhalb der Linken und der Arbeiterbewegung sowie im Staatssozialismus, aber auch von bürgerlichen Gegnern und staatlichen Organen, oft ergänzt durch das Konzept des ›Linksextremismus‹ (vgl. Dovermann 2011). Die Doppelnatur von Selbst- und Fremdbezeichnung sowie die Rückbezüge auf sich wandelnde Kategorien von »links« und »Radikalismus« verleihen dem L eine enorme Bandbreite. Im ML galt Lenins Schrift Der »linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit im Kommunismus (1920), in der er linksradikale Strömungen kritisierte, die sich im schnellen Aufschwung der kommunistischen Bewegung nach 1918 angeschlossen hatten, als allgemeingültige Vorgabe für die Beurteilung des L insgesamt.

Zwar unterscheiden sich die verschiedenen Ausprägungen des L in den Zielen radikaler Kapitalismuskritik nicht wesentlich von anderen Strömungen der Arbeiterbewegung oder des Marxismus, entscheidendes Abgrenzungsmerkmal ist aber die Unbedingtheit der Radikalität dieser Kritik, aus der sich oft eine Minderheitenposition auch in der eigenen Bewegung ergibt, die wiederum mit dem Vorwurf des Sektierertums kritisiert wurde: der L sei nicht in der Lage, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse taktisch-politisch zu denken, sondern gehe stets von der Utopie aus. Dieses utopische Moment, das sich etwa in der Forderung einer Revolutionierung des Alltagslebens äußerte, konnte in der Tat ins Antipolitische umschlagen, sei es im Verbalradikalismus oder durch Rückzug aus gesellschaftlichen Kämpfen, vom Wahlboykott bis hin zu Versuchen der Verwirklichung von Utopie in der Nische, z.B. in Kommunebewegungen im Frühsozialismus wie auch in der zweiten Hälfte des 20. Jh. Gelegentlich wurde die Bestimmung von »radikal« auf die Gewaltfrage verkürzt; wo Strömungen des L sich für Gewalt gegen Personen aussprachen oder sie praktizierten, diente dies oft als Vorwand für Repression – zugleich verstärkten Polizeiorgane gewaltbereite Tendenzen immer wieder durch den Einsatz von agents provocateurs. Dennoch war der L in verschiedenen Bewegungszyklen auch ein Motor der Erneuerung der Arbeiterbewegung und anderer sozialer Bewegungen – durch sein Insistieren auf Vertiefung von Kritik sowie als Gegengewicht zu Hierarchiebildung, Bürokratisierung und reformistischer Integration.

In der Dialektik von Reform und Revolution forderte der L stets die unmittelbare Revolution oder zumindest die Revolte, wohingegen langfristiger Organisationsaufbau skeptisch gesehen oder ganz abgelehnt wurde. Ambivalent und widersprüchlich ist der L dagegen hinsichtlich der Frage des Zentralismus und der bewegungsinternen Demokratie: der deutsche Linkskommunismus der 1920er Jahre formierte sich z.B. gegen den entstehenden Stalinismus, vertrat jedoch als Variante des Leninismus avantgardistische Organisationsmodelle, während andere Strömungen des L in der Weimarer Republik zum Föderalismus oder (Anarcho-)Syndikalismus tendierten. Auch im Frühsozialismus und nach 1945 zeigten sich sowohl autoritäre als auch antiautoritäre Varianten des L.

Generell ist der L weniger eine ideengeschichtliche Strömung oder Tradition, sondern eine sich stets neu herausbildende, oft in Unkenntnis oder auch bewusster Ignorierung historischer Vorläufer ausgeübte Form kritischer Praxis, die nur historisch bestimmt werden kann, wie die folgenden Beispiele exemplarisch zeigen.

Anarchismus, Anarchosyndikalismus, antiautoritäre Bewegung, Avantgarde, bestimmte Negation, Bolschewisierung, Brandlerismus, Bucharinismus, Demokratie/Diktatur des Proletariats, Disziplin, Dogmatismus, Egalitarismus, Einheitsfront, Eurokommunismus, Extremismus, Frühsozialismus, Führung,Gewalt, Große Weigerung, Guevarismus, innerparteiliche Demokratie, integraler Sozialismus, internationalistische Bewegung, K-Gruppen, Kompromiss, Korsch-Linie, Kritik, links/rechts, Linkskommunismus, Linkssozialismus, Luxemburgismus, Maoismus, Marxismus-Leninismus, Marxismus Lenins, Massenbewegung, Neue Linke, Neue Soziale Bewegungen, Novemberrevolution, Operaismus, Orthodoxie, Radikalität/radikal, Räte/Rätesystem, Rätekommunismus, Reform, Reformismus, Revolution, revolutionärer Attentismus, revolutionäre Realpolitik, revolutionärer Syndikalismus, Sozialfaschismus, Sozialrevolutionäre, Staat, Stadtguerilla, Stalinismus, Studentenbewegung, Surrealismus, Terrorismus, Trotzkismus, Ultralinke, Utopie, Zimmerwalder

artikel_per_email.jpg

 
InkriT Spende/Donate     Kontakt und Impressum: Berliner Institut für kritische Theorie e.V., c/o Tuguntke, Rotdornweg 7, 12205 Berlin
l/linksradikalismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/24 23:39 von christian     Nach oben
Recent changes RSS feed Powered by PHP Valid XHTML 1.0 Valid CSS Driven by DokuWiki Design by Chirripó