immanente Kritik

A: an-naqd al-bāṭinī. – E: immanent critique. – F: critique immanente. – R: immanentnaja/vnutrennaja kritika. – S: crítica imanente. – C: neizai de pipan 内在的批判

Wolfgang Fritz Haug, Dimitris Karydas, Thomas Weber

HKWM 6/I, 2004, Spalten 798-810

Im Methodenpostulat der ›iK‹ kreuzen sich Fragen aus dem Streit um Parteilichkeit und Werturteil mit solchen der Ideologiekritik vs. streng werkimmanenter Interpretation. Bestimmt man »Ideologie« als »das Zurückfallen der bürgerlichen Gesellschaft hinter ihren eigenen Anspruch und die Selbsttäuschung über diese Diskrepanz im Bewusstsein und durch das Bewusstsein« (Lieber 1965) und iK als »Konfrontation dessen, als was eine Gesellschaft auftritt und was sie ist« (Adorno, Einl. zum »Positivismusstreit«), dann scheint Ideologiekritik als angestammter Ort dieser Konfrontation. Dass die Zapatisten der mexikanischen Regierung 1994 den Krieg im Namen der mexikanischen Verfassung erklärt haben, könnte in diesem Sinn als praktisch werdende iK verstanden werden. – Andere unterscheiden die Ideologiekritik wissenschaftlicher Theorien explizit von deren iK im Sinne einer »Mobilisation des Widerspruchspotenzials der Wissenschaften als Moment der gesellschaftlichen Produktivkräfte gegen die sie und ihre Entfaltung fesselnden kapitalistischen Produktionsverhältnisse« (Furth u.a. 1980). IK fungiert zugleich als methodische Legitimation bürgerlicher Wissenschaft, über ihren Standpunkt zu schweigen bzw. in illusionärer Allgemeinheit zu sprechen.

Das Terrain, auf dem solche Unterscheidungen getroffen werden und solche Fragen sich stellen, kann allgemein als das einer politischen Epistemologie oder ›Politik der Erkenntnis‹ begriffen werden. Hier treffen Erkenntnisansprüche auf einschränkende und kanalisierende Regulationen. Wenn Marx in ThF 2 von einem Denken spricht, »das von der Praxis isoliert ist« (…), dann kann die Einschließung von Kritik in die Immanenz eine der Formen sein, in denen diese Isolation bewacht wird. Der akademische Nachwuchs soll lernen, »die iK (auf Basis der Voraussetzungen des jeweiligen Autors) von der externen Kritik (auf Basis von anderen Voraussetzungen)« zu trennen und bei letzterer »zu begründen, warum ein Autor auf Basis dieser ihm fremden Voraussetzungen beurteilt werden sollte« (Mazouz/Gottschalk-Mazouz).

Doch wer entscheidet über Immanenz oder Angemessenheit? Das Feld der ›iK‹, der Sinn ihrer Formeln sowie diese selbst sind umkämpft, seit Gesellschaften Wissenschaft und Philosophie institutionalisiert haben. Dabei changieren Entfremdung und Emanzipation. So kann ›iK‹ von einer Formel der Reglementierung zur Losung unreglementierter Erkenntnis werden. Und umgekehrt: Als etwa, wie Herbert Marcuse hervorhebt, Hume mit seiner »Gesinnung, sich rechtschaffen mit den Grenzen der Vernunft abzufinden«, den Substanzialismus kritisierte, »bekämpfte er eine mächtige Ideologie« (1967), die in Staat und Kirche reglementierende Gestalt angenommen hatte; bei seinen positivistischen, behaviouristischen oder sprachanalytischen Nachfolgern hingegen wird dies zum »affirmativen Denken«: »die philosophische Kritik kritisiert innerhalb der Gesellschaft und brandmarkt nicht-positive Begriffe als bloße Spekulation, Träume oder Phantasien« (…).

Dem entspricht die sog. werkimmanente Interpretation, die das »Wesen« der Kunst in idealer Unabhängigkeit von allen sonstigen Sphären des zivilen, politischen, religiösen, nationalen Lebens konstituieren will (Kayser 1951). IK im Sinne einer rigorosen Orientierung am Gegenstand, die sich von keiner äußeren Macht imponieren lässt, schafft sich hier ein künstliches Paradies, zu dem nur Zugang findet, wer mit »besonderer Empfänglichkeit für das Phänomen des Dichterischen« (…) begabt ist.

Ausdruck, bestimmte Negation, Bestimmung/Determination, Bewußtsein, Dialektik, Diskursanalyse, Diskurstheorie, Dogmatismus, Empirie/Theorie, Epistemologie, Form, Fortschritt, Gegenstand, Hermeneutik, Historisierung, Ideal, Identitätslogik, Ideologiekritik, Ideologietheorie, Immanenz, innen/außen, Interpretation, Irrationalismus, Kritik, Kritik der politischen Ökonomie, Materialanalyse, Methode, Neukantianismus, Parteilichkeit, Phänomenologie, Positivismus, Schweigen, spontane Ideologie, Standpunkt/Perspektive, symptomale Lektüre, Transzendenz/Immanenz, Vermittlung, Vernunft, von außen, Wertfreiheit

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