Institution

A: al-muʼassasāt. – E: institution. – F: institution. – R: institucija. – S: institución. – C: jīgòu, zhìdù 机构, 制度

Wolfgang Fritz Haug (I.), Redaktion (II.), Werner van Treeck (III.)

HKWM 6/II, 2004, Spalten 1221-1244

I. In der Alltagssprache bezeichnet ›I‹ häufig »eine Art von Anstalten wie Gefängnis oder Krankenhaus«, in der Soziologie generell das zwischen anerkannter Regelmäßigkeit und normativer Geregeltheit sich Wiederholende (Aubert 1979). Im theoretischen Sinn lässt I sich mithin als soziale Reproduktionsform begreifen. – Theodor W. Adorno umschreibt I.en zunächst als »Einrichtungen des öffentlichen Lebens im weitesten Sinne, […] so wie man den Ausdruck ›institution‹ in der amerikanischen Soziologie gebraucht, also Behörden, Gewerkschaften, Schulen, Familientypen, gesellschaftliche Verhältnisse, kurz alle möglichen objektiven Einrichtungen, Tatbestände und Gegebenheiten des Soziallebens, von denen die Menschen abhängen und auf die sie selbst wiederum zurückwirken« (…). Trotz dieser unmittelbaren Plausibilität gilt die Kategorie mit ihrer »›Grätsche‹ zwischen individueller Subjektivität und sozialer Objektivität« (Pabst 1984) als soziologisch »schwierig zu umschreiben, zumal sie sich in der Alltagssprache inflationär verbreitet hat und verschiedene Bedeutungen in sehr unterschiedlichen diskursiven Registern angenommen hat« (Álvarez-Uría 1988). Wenn I.en gesellschaftliche Verhältnisse, Instanzen, Praxisformen, präskriptive wie prohibitive Normen oder einfach Gepflogenheiten, ja sogar Einstellungen, Haltungen und Gewohnheiten zum Inhalt haben, so drängt sich die Frage auf, was es erlaubt, diese heterogenen Elemente gleichermaßen als I zu identifizieren. Eine erste Erklärung lautet: »Ein gesellschaftliches Verhältnis zu institutionalisieren heißt, es auf Dauer zu stellen.« (Kuhn 1990) Diese Bestimmung ist überallgemein: ihr Anwendungsgebiet reicht von den elementaren kulturellen Ausformungen des Lebens und den Konventionen des Alltags bis zu einer repressiven »totalen I« wie der des Gefängnisses (Goffman 1961). – Lässt sich eine spezifisch institutionelle Weise solch relativer ›Verewigung‹ angeben? Sie wird oft durch Sakralisierung und Sanktionierung erreicht. Das Evangel. Staatslexikon hebt verständlicherweise die erste hervor: »I.en bestehen auf Dauer nur dann, wenn sie in Bildern und Sinnbildern wirken, als (Heils-)Zeichen verstanden werden können und anzueignen sind in Fest und Feier.« (Lipp 1987) Allgemein verweist dies darauf, dass keine I allein bestehen kann, sondern nach Überdeterminierung, Flankierung und Bewachung durch andere I.en verlangt, die sie im Unterschied zur bloßen Organisation oder Assoziation »dem planenden Eingriff […] schwer zugänglich« (Bühl 1973) macht. Zu fragen ist daher stets nach dem ›institutionellen Gefüge‹. Adornos eingangs zitierte Aufzählung von I.en im Sinne der amerikanischen Soziologie erscheint nun als theoretisch unterbestimmt oder ›empiristisch‹. Wenn dagegen das Besondere der Institutionalisierung als »Entäußerung (Externalisierung) und Verdinglichung (Objektivation) der sozialen Beziehungen« bestimmt wird (Bühl 1973), so scheint auch diese Definition zu unspezifisch, da dieser Prozess weder von der ›Innenseite‹ menschlichen Handelns abgelöst zu begreifen, noch jeder »Prozess der Verfestigung (Habitualisierung) von bestimmten Mustern regelmäßig wiederkehrenden Verhaltens« (Pabst 1984) notwendig eine Verdinglichung ist, will man den Begriff nicht um seinen kritischen Sinn bringen. Die funktionalistische Betrachtung von I.en als gesellschaftlichen Subsystemen, die sich als »soziale Universalien« (Parsons) darstellen (vgl. Lipp 1987), übergeht die Spezifik auf andere Weise. Gleiches lässt sich von den Ansätzen sagen, die das fraglose »Man der Sitte (das, was man tun muss, um gut zu handeln)« (Pesendorfer 1980) ins Zentrum rücken.

Wenn die »Gesamtheit der I.en« etwa des Feudalismus sich um den Kern der »gegenseitigen Beziehung von Gehorsam und Schutz zwischen dem Starken und dem Schwachen« (Comte 1822) gruppieren, so deutet diese Bestimmung auf einen fundamentalen Herrschaftscharakter, der in den Produktionsverhältnissen gründet. Der marxistische Diskurs bricht das Schweigen über dieses Doppelelement aus Klasse und Herrschaft mit seinem wolkigen Darumherumreden. Das ist seine Stärke, die zur Schwäche wird, sobald er das Kind mit dem Bade ausschüttet, wann immer er mit dem ideologisch artikulierten Herrschaftssinn auch die diesem unterworfenen Gehalte des Sozialen negiert. Die abstrakt-totale Negation des Institutionellen, die oft mit der Orientierung auf den Abbau des Staates in einer klassenlosen Gesellschaft verbunden worden ist, hat im stalinistisch geprägten Staatssozialismus zur bedingungslosen Unterwerfung des Gesellschaftlichen unters Staatliche beigetragen. Die Alternative dazu ist die bestimmte Negation, wie sie aus Rudi Dutschkes Aufruf zum Durchbrechen der »etablierten Spielregeln« spricht, der zugleich Ausdruck einer gesellschaftlichen Repräsentationskrise war: »Wir sind in diesem System von I.en nicht mehr vertreten, darum sind diese I.en nicht Ausdruck unseres Interesses, darum müssen wir […] unsere eigenen I.en errichten und das Interesse, das wir haben, adäquat politisch ausdrücken« (1967).

II. Als Jurastudent und später als Leser und dann Kritiker der Hegelschen Rphil ist dem jungen Marx die Kategorie I im Sinne der rechtlich verankerten oder flankierten gesellschaftlichen Festlegungen (›Einrichtungen‹) vertraut. Aufsehen erregt er mit seiner Erstveröffentlichung: In den Bemerkungen über die preußische Zensurinstruktion legt er den Finger auf die Ungereimtheit, von den Bürgern »gesetzmäßiges Betragen und Achtung vor dem Gesetze« zu erwarten, »aber zugleich sollen wir I.en ehren, die uns gesetzlos machen und die Willkür an die Stelle des Rechts setzen« (…). Für den werdenden Geschichtsmaterialisten sind dann »der Staat und die Einrichtung der Gesellschaft […] von dem politischen Standpunkt aus nicht zwei verschiedene Dinge. Der Staat ist die Einrichtung der Gesellschaft«, ihr »tätiger, selbstbewusster und offizieller Ausdruck« (Kritische Randglossen). In der mit Engels gemeinsam verfassten DI gilt schließlich der bürgerliche Staat als »die Form, […] in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen und die ganze bürgerliche Gesellschaft sich zusammenfasst«, wodurch »alle gemeinsamen I.en durch den Staat vermittelt werden, eine politische Form erhalten« (…). Die I des Staates gewährleistet die Kohärenz der übrigen I.en, so dass etwa die Familie »den Charakter der bürgerlichen Familie« erhält (…). […]

Für die juristische Ideologie sind I.en das Erste, die gesellschaftlichen Verhältnisse mit dem Kern der Produktionsverhältnisse das Abgeleitete. »Wessen Kreatur sind denn ›die bürgerlichen I.en‹?«, fragt Marx in K I in seiner Auseinandersetzung mit Frederic M. Eden, der »die Produktionsverhältnisse als Produkt des Gesetzes« betrachtet (…). Im Zuge der Umwälzung der Produktionsweise verändern sich auch die I.en, die selbst das Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sind, Ort und Resultat des Klassenkampfes, wie Marx an der Fabrikgesetzgebung zeigt (…). Der Kompromisscharakter der I des »Normalarbeitstages« und und dessen Herkunft aus Klassen- und Klassenfraktionskämpfen und -koalitionen werfen ein allgemeines Licht auf die Welt der I.en.

III. In der nicht-marxistischen Soziologie kann die Entwicklung des Begriffs I entlang einer Unterscheidung von Ansätzen gefasst werden, die entweder in der Nachfolge Durkheims deren objektiven Zwangscharakter als vom Handeln der Subjekte weitgehend unabhängig behaupten, oder in Absetzung von diesem die objektive Wirklichkeit sozialer Tatsachen als Leistung gemeinsamen alltäglichen Handelns der Menschen zu begreifen suchen. […Unklar bleibt,] warum diese [I.en] bestimmte Formen annehmen. Auf der einen Seite stehen vorgegebene instiutionelle Zwänge »autopoietischer« Systeme (Luhmann), auf der anderen individuelle Alltagserfahrungen – in dieser begrifflichen Anordnung geraten die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und ihre Widersprüche aus dem Blick.

Abbau des Staates, Assoziation, Bewegung, Bürokratie, Demokratie/Diktatur des Proletariats, Ehe, Fabrikgesetzgebung, Familie, Flexibilisierung, Fordismus, Form, Funktionalismus, Gemeinwesen, Genossenschaft, Geschichte, Gesellschaft, Gewaltenteilung, Gewerkschaften, Gewohnheit, Habitus, Handlung, Hegemonialapparat, Hegemonie, herrschaftsfreie Gesellschaft, historische Individualitätsformen, Ideologietheorie, ideologische Staatsapparate/repressiver Staatsapparat, Individualismus, Instanz, integraler Staat, Justiz, Klassenkampf, Kohärenz, Kompromiss, Konsens, Korporatismus, Kräfteverhältnis, Krise des Fordismus, Lohnform, Markt, Moral, Normen, Ordnung, Organisation, Pariser Kommune, Parlamentarismus, privat/öffentlich, Produktionsweise, Recht, Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs, Regulationstheorie, Reproduktion, Schule, soziales System, Sozialstaat, Staat, Struktur, Tradition, Verhältnis, Vermittlung, Verselbständigung, Vertrag, Volksdemokratie, Werte, Zerstörung

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