Hegemonie
A: al-haimana. – E: hegemony. – F: hégémonie. – R: gegemonija. – S: hegemonía. – C: baquan, lingdaoquan 霸权, 领导权
Wolfgang Fritz Haug (I.), Alastair Davidson (II.)
HKWM 6/I, 2004, Spalten 1-29
I. In der begrifflichen Ausarbeitung der »enorm produktiven Metapher der H« (Hall 2000), um die Bewegungsform politischer Einheitsstrategien zu bestimmen, gewinnt Antonio Gramsci seinen »alle anderen Themen perspektivierenden« (Haug 1996) Zugang zu einer marxistischen Politik- und Machttheorie jenseits ökonomistischer Reduktionismen. Im Zuge seiner H-Forschungen untersucht er antike, kirchlich-feudale, bürgerliche bis hin zu faschistischen Herrschafts- und Machtgewinnungs- bzw. -ausübungsformen, sowohl »Hegemonialsysteme im Innern des Staates« als auch der »Gruppierungen von Staaten in Hegemonialsystemen« (Gef). Doch tut er das durchgängig im Blick auf sozial-emanzipatorische Handlungsfähigkeit, also vom Standpunkt der subaltern Gehaltenen und damit einer Position relativer Schwäche. Für sozialistische oder kommunistische, allgemein linke Politik- und Parteitheorie ist diese Forschung von fundamentaler Bedeutung. Sie »substituiert die Idee der herrschenden Rolle durch diejenige des führenden Einflusses, die Idee der Zwangs- und Repressionsinstanz durch die der Expansionskraft, der ›pädagogischen Beziehung‹, und zielt auf Zustimmung, nicht auf liniengemäße Einreihung« (Sève 1980). Im Antagonismus der Klassen oder Klassenbündnisse, ja auch der internationalen Blockbildungen nicht nur im Kalten Krieg, umschreibt ›H‹ die Anziehungskraft einer auf Klassenbasis entwickelten politischen Formation, ihrer ›Philosophie‹ und ihres Projekts zunächst auf die Intellektuellen der als Verbündete geeigneten Klassen oder Gruppen und womöglich selbst noch auf die der gegnerischen Formationen. Was H vom Standpunkt der Emanzipationsbewegung der subaltern gehaltenen Klassen bedeuten kann, hat Bertolt Brecht der Sache nach auf den Punkt gebracht: »Ebenso wie die Angehörigen unterdrückter Klassen den Ideen ihrer Unterdrücker verfallen können, so verfallen Angehörige der unterdrückenden Klassen den Ideen der Unterdrückten. Zu bestimmten Zeiten ringen die Klassen um die Führung der Menschheit, und die Begierde, zu deren Pionieren zu gehören und vorwärtszukommen, ist mächtig in den nicht völlig Verkommenen.« (…) Vor dem Begriff der H rangiert darum, wie Gramsci einschärft, der des »Kampfes zwischen zwei hegemonischen Prinzipien« (…), die freilich nicht in der Luft hängen, sondern eine funktionierende Antwort auf die objektiven Bedingungen und Probleme, die sie intersubjektiv vermitteln, artikulieren müssen. Bei stabiler Herrschaft können die Intellektuellen der sozialen Bewegungen deren ›ideologischen Zement‹ zermürben (›desartikulieren‹) mit dem (Fern-)Ziel einer Dyshegemonie der Herrschenden. Im Rahmen von Gegenmacht-Stützpunkten und Gegenöffentlichkeiten müssen sie bestrebt sein, eine Gegenhegemonie (sei sie auch von begrenzter Reichweite) zu entwickeln.
Seit den 1970er Jahren hat Gramscis H-Konzept eine enorme Wirkung entfaltet. Während er bis dahin außerhalb Italiens und allenfalls noch Frankreichs »fast unbekannt« war, konnte Günther Trautmann 1987 feststellen, dass Gramscis »Hegemonialtheorie fast jedem europäischen Intellektuellen geläufig« war, ja »sogar in die Sprachwelt führender Politiker« vordrang (…) und das Zeug hatte, »zum Ausgangspunkt für eine moderne politische Handlungstheorie« zu werden (…). Im geschichtlichen Moment der Selbstaufgabe der DDR versuchte Detlev Hensche, die Einsichten Gramscis in der Gewerkschaftsbewegung zur Geltung zu bringen: »Proletkult und Intellektuellenvorbehalte haben eine lange Tradition, auch bei uns. Dabei wissen wir spätestens seit Gramsci, dass nicht allein der starke Arm des Arbeiters, sondern ebenso die öffentliche Meinung, die kulturelle H über die eigene Durchsetzungskraft entscheiden.« (1990) Peter Glotz sah in den Gefängnisheften »sechs oder sieben Denkfiguren, mit denen die Parteien der europäischen Linken heute noch arbeiten könnten, wenn sie nur wollten. Die wichtigsten dieser Denkfiguren kann man mit drei Begriffen charakterisieren: kulturelle H, historischer Block, Volkstümlichkeit.« (1991) Die Einschreibung in die Klassenstruktur der Gesellschaft, ohne die Gramscis Konzept sich verflüchtigt, ist hier freilich bis zur Unlesbarkeit verblasst.
Unter den aus der III. Internationale hervorgegangenen kommunistischen Parteien außerhalb der SU wurde das Thema H im Sinne Gramscis erst virulent, als die antagonistische H des von der SU dominierten und ›befehlsadministrativ‹ geführten Blocks nach innen und außen erodiert war. Politikprägend wurde das Streben nach Gewinnung ›kultureller H‹ in der Phase des Eurokommunismus. Das bedeutete, »auf eine Austragungsweise der Antagonismen hin zu orientieren, die ›allgemeine‹ Zustimmungsfähigkeit anstrebt« (Haug 1996).
Angetrieben war die Rezeption durch das Verlangen nach der gemeinten Sache: einer Macht, die in der Überzeugung der Menschen wurzelt und Herrschaft nicht nur abstrakt legitimiert, sondern auf den Konsens der Beherrschten bettet. Dass die H-Theorie den politischen Intellektuellen eine Schlüsselrolle einräumt, mag zur inflationären Verwendung des Begriffs beigetragen haben, die ihn – wie den Nachbarbegriff der Zivilgesellschaft, die Gramsci als Sphäre der H-Bildung bestimmt – oft genug verflachte, »in der matten Sprache der deutschen Politik […] mit ›Meinungsführerschaft‹« (Glotz 1991) bzw. »Themenführerschaft« (Razumovsky 1993) oder »argumentativer Vorherrschaft« übersetzte (Fuhr 1997), die gesellschaftliche Tiefendimension der H zugunsten des gewünschten Oberflächeneffekts ausblendend.
Traditionell wurde ›H‹ für Vorherrschaft gebraucht. So hat der »Kampf […] um die europäische H« (Simmel 1900) die moderne Geschichte Europas zur Kriegsgeschichte gemacht, bis aus dieser, als Resultat des Zweiten Weltkrieges, die binäre Weltordnung der Systemkonkurrenz hervorging, deren von den antagonistischen Supermächten USA und SU ›hegemonistisch‹ dominierte Aufmarschordnung diesseits und jenseits des ›eisernen Vorhangs‹ die um H geführten nationalstaatlichen Kriege ausschloss. In einer neoliberal geprägten Welt, deren ›globale Städte‹ von den »Panzerglastürmen der H des Geldes« überragt werden (Marcos 2000), hat die nach Ausscheiden der SU einzig verbliebene Supermacht USA den gewaltbetonten Weg imperialer Herrschaft eingeschlagen, die ›hegemonistisch‹, ohne internationale H – bei allerdings fortbestehender kultureller Teil-H –, operiert. Die mittleren und kleineren Mächte sehen sich dadurch gedrängt, im Gegenzug hegemoniefähige internationale Politikstrukturen zu entwickeln (vgl. Haug 2003), sofern sie sich nicht mit »einer Art Sub-H innerhalb der weiter bestehenden US-Vormachtstruktur« (Fülberth 2001) bescheiden.
Der Gegensatz von Imperial- und Zivilgesellschaft ist für epochal bestimmend gehalten worden (Fleischer 1992), doch erodiert letztere konsumistisch unterm Einfluss TV-vermittelter Zerstreuung. Zumal in den USA erreichen hegemonierelevante Debatten nur eine Minderheit, während die Mehrheit – als ›Nichtwähler‹ – hegemoniepolitisch neutralisiert ist.
II. Der II. Intern. Gramsci-Kongress, der 1967 unter dem Titel »Gramsci und die zeitgenössische Kultur« stattfand, markiert einen Wendepunkt der Gramsci-Rezeption. Die bis dahin dominierende Auffassung, Gramsci sei »Leninist«, bezog sich u.a. auf die folgende Passage der Gefängnishefte: »Mir scheint, Iljitsch hatte verstanden, dass es einer Wende vom Bewegungskrieg, der 1917 siegreich im Osten angewandt worden war, zum Stellungskrieg bedurfte, welcher der einzig mögliche im Westen war […]. Nur dass Iljitsch die Zeit nicht hatte, seine Formel zu vertiefen, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass er sie nur theoretisch vertiefen konnte, während die Hauptaufgabe national war, das heißt eine Erkundung des Terrains und eine Fixierung der Elemente von Schützengraben und Festung erforderte, die durch die Elemente der Zivilgesellschaft repräsentiert wurden«. Solche Formulierungen legten nahe, Gramsci habe Kategorien Lenins in die italienische Situation übersetzt. […] Die Auffassung der Nähe/Ferne des H-Begriffs zu Lenin führte zu zwei komplementären Haltungen: Entweder verzichtete die Neue Linke ganz auf Gramsci, der als Ausdruck des diskreditierten sowjetischen Modells erschien, oder man hielt sich allein an den organischen Intellektuellen der Rätebewegung vom Beginn der 1920er Jahre, auf den der Schatten des leninschen Parteikonzepts nicht fallen konnte. […]
Der H-Begriff ist Ausgangspunkt dafür, dass Gramsci für die Theorie internationaler Beziehungen interessant wurde (Cox 1993; Cox u.a. 1995; Gill 1993; Overbeek 1993), denn die Frage nach dem Übergang von der Struktur zur Sphäre der komplexen Superstrukturen, von den spezifischen Interessen einer Gruppe oder Klasse zur Ausbildung von anscheinend universellen Institutionen und Ideologien berührt sie unmittelbar: Um als nicht-klassenspezifische wahrgenommen zu werden, bedarf es einiger Zugeständnisse an die subalternen Gruppen, »ohne die Führung der hegemonialen Klasse zu untergraben« (Gill 1993).
Darüber hinaus reflektiert der H-Begriff die Krise des Nationalstaats und die Suche nach einem internationalen politischen Subjekt: »die Unterordnung des Zwangsstaats unter eine hegemoniale Politik verwirklicht sich im Prozess der Formierung und des Voranschreitens einer ›Ökonomie auf weltweiter Stufenleiter‹« (…). […] Baratta (2003) [zufolge ist] Gramsci einer der ersten Theoretiker […], welche die Welt in ihrer geopolitischen Konfiguration als eine Einheit aufgefasst haben, die auf der hegemonialen Rolle Amerikas beruht. Gramsci habe den Amerikanismus als ein neues ›Aufblühen‹ des Kapitalismus studiert, nicht als ein faulendes Etwas wie Lenin und eine Unmenge von Nachfolgern (…). Jede sozialistische Transformation würde diese Globalisierung in Rechnung stellen müssen.
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