Irrationalismus

A: al-la-ʽaqlānīya. – E: irrationalism. – F: irrationalisme. – R: irracionalizm. – S: irracionalismo. – C: fēilǐxìng zhǔyì 非理性主义

Peter Jehle

HKWM 6/II, 2004, Spalten 1531-1542

›Vernunft‹ ist, wie alle diskurssteuernden Scharnierbegriffe, besonders aufnahmefähig für gegensätzliche politische Artikulationen: Sie kann ausgreifen auf die Gestaltung einer solidarischen Gesellschaft, und sie kann den einzelnen bedeuten, doch ›vernünftig‹ zu sein, d.h. sich in die Herrschaftsordnung zu fügen. »Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form.« (Marx) Soweit der »politische Staat, auch wo er von den sozialistischen Forderungen noch nicht bewussterweise erfüllt ist«, die »Forderungen der Vernunft« als »realisiert« unterstellt, gerät er in den »Widerspruch seiner ideellen Bestimmung mit seinen realen Voraussetzungen« (…). In Feuchtwangers 1933 im Exil geschriebenem Roman Die Geschwister Oppermann bezeichnet die Auffassung, »dass am Ende immer Vernunft die Dummheit besiegt« (…), eine Durchhalteparole der Opfer, wobei offen bleiben muss, wie lange »das Ende« auf sich warten lassen wird und wie es herbeizuführen wäre. Was sich als ›ir/rational‹ darstellt, bezeichnet stets ein Kräfteverhältnis, einen bestimmten Moment im Kampf um die »Geschichte im Werden« (Gef). Was »rational«, also zweckmäßig ist, ist keine den Dingen oder Verhältnissen an sich zukommende Eigenschaft, sondern muss sich geschichtlich bewähren. Der Rationalismus, den der I negiert, wird zumal von der aufklärungsfeindlichen deutschen Bildungswelt als der Repräsentant der französischen Geistigkeit schlechthin bekämpft. Das ›Irrationale‹ ist von I zu unterscheiden: Der »Ismus« selbst ist nicht irrational. Die »Geistigen«, die »gegenwärtig das Irrationale preisen«, bemerkt Horkheimer, vertragen sich mit »allen offiziellen Cliquen, die ihrem Fortkommen dienen können, ausgezeichnet« (Nachgelassene Schriften 1914-1931). Ihr Kampf »gegen die ratio« ist der einer »geschlossenen Intellektuellenzunft für die konsolidierte Großbourgeoisie« (ebd.). Auch der Kampf gegen den ›Geist‹ verlangt intellektuellen Aufwand. Thomas Mann spottete über die »zehntausend Dozenten des Irrationalen«, die im Schatten Nietzsches »wie Pilze aus dem Boden wuchsen« (…). Mit einem »Appell an die Vernunft« wollte er dem »irrationalistischen, den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens stellenden Rückschlag« entgegentreten (…). Werner Krauss analysierte im Rückblick die geistesgeschichtliche Wende in den 1920er Jahren als Entmündigung der »Vernunft«, die den »Kniefall vor einer entgeisterten Lebensgewalt« vollzog (1950). Die in den Termini der Un/Vernunft vorgetragene Kritik an der vielstimmig betriebenen Diskreditierung der Weimarer Republik war also ein gängiges Thema, das nach 1945, unter entgegengesetzten Vorzeichen, die erste Phase der Faschismusdiskussion bestimmte. Georg Lukács, dessen Zerstörung der Vernunft im folgenden im Zentrum steht, nahm diese Artikulation auf und baute sie zu einer Ideologiekritik des Imperialismus aus, dessen ›Rationalität‹ eben als I gefasst wird: Lukács sieht ihn wesentlich durch Ideologien gerechtfertigt, die das Irrationale anthropologisieren oder zu einem höchsten Wert erklären.

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