Kompromiss
A: ḥal waṣaṭ. – E: compromise. – F: compromis. – R: kompromiss. – S: compromiso. – C: tuoxie 妥协
Christian Wille (I.), Boris Kagarlitzky (II.)
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1432-1448
I. Ins Deutsche gelangte das lat. compromissum v.a. in der Bedeutung des römischen Rechtsausdrucks »sich gegenseitig versprechen, die Entscheidung auf den Ausspruch eines arbiter (Schiedrichters) ankommen zu lassen und sich dabei zu beruhigen« (Georges, 1). Dies lässt an die Möglichkeit einer Schlichtung durch einen ›Dritten‹ wie an die Abtretung der Urteils-Fähigkeit an eine spezialisierte, ›höhere Instanz‹ denken. Der prekäre Status des K, dass dabei unter der Hand die eigenen Maßstäbe und Prinzipien entgleiten können oder außer Kraft gesetzt werden, tritt in der übers Frz. vermittelten pejorativen Sonderbedeutung von »kompromittieren« hervor, »jemanden in eine kritische Lage bringen, jemanden bloßstellen (indem man ihn dem Urteil eines Dritten aussetzt)« (Duden, Etymologie).
K.e erscheinen im Allgemeinen so lange als unproblematisch, wie sie als Ergebnis des Miteinander-Sprechens von Akteuren mit partikularen Interessen mit dem Ziel der Verständigung und Übereinkunft durch wechselseitige Zugeständnisse betrachtet werden. Geht es aber in einem sozialen System mit antagonistischer Struktur um Fragen des Gemeinwesens, um Handlungsfähigkeit in der Perspektive geschichtlicher Veränderung, die dem Anspruch auf gemeinschaftliche Verfügung über die Bedingungen des eigenen Lebens Rechnung tragen, ist es nicht hinreichend, sie unter formalem Aspekt als Aushandlung unter ›Gleichen‹ oder als Kräftegleichgewicht zu begreifen. Sie drücken einen Entwicklungsstand gesellschaftlicher Kämpfe aus, aus denen ein vorläufiges Konfliktresultat hervorgegangen ist, zeigen einen »gesellschaftlichen Umwälzungsprozess an einem Ruhepunkt« (Marx, Klassenkämpfe) an. In der K-Resultante verliert sich typischer Weise die Spur des Zustandekommens des K, da dieser selbst das politische Terrain verändert. Damit gesellschaftliche Herrschaft sich in der Form des K ausdrückt, ist vorausgesetzt, dass nicht »eine Kraft sich die andere mit Zwang« unterordnen kann. Deshalb ist, wie Gramsci bemerkt, die Frage zunächst »die, ob es diese Gewalt gibt und ob es ›produktiv‹ ist, sie einzusetzen« (Gef). K.e werden formal auf einer »Ebene der Gleichheit« geschlossen, in dieser Form aber sind sie Ausdruck einer stabilisierenden Funktion innerhalb einer Herrschaftsstruktur. Wenn die Einheit zweier Kräfte, also ein innerer K, gegen eine dritte notwendig ist, nimmt der K eine andere Form an und geht eine andere Verbindung mit Gewalt ein als in einer hegemonialen Struktur, wo die Herrschaft auf die Mitwirkung der Beherrschten angewiesen ist. Hier müssen die herrschenden Gruppen einen äußeren K mit den subalternen Gruppen suchen und »den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche Hegemonie ausgeübt werden soll«, Rechnung tragen (auch wenn sich dies nicht bis in den ökonomischen Kernbereich hinein erstreckt). Die K-Fähigkeit einer Gruppierung ist also im Rahmen der jeweiligen Grundstruktur der Herrschaft selbst veränderlich, von den geschichtlichen Voraussetzungen und den konkreten Kräfteverhältnissen abhängig, die wiederum durch ihr politisches Moment – wie die Kräfte organisiert und angeordnet sind –, selbst in gewissen Grenzen ›beweglich‹ sind. Vorgefundene, von der geschichtlichen Entwicklung geschaffene K.e strukturieren das Feld, auf dem K.e geschlossen werden können und müssen (erzwungene K.e bzw. Freiheitsgrade aus der Sicht der Handelnden). Dies macht die Schwierigkeit und die ›Kunst‹ des politischen Umgangs mit K.en aus: sie sind unvermeidlich, »da die Geschichte kontingent ist« und Handlungsnotwendigkeiten erzeugt, aber sie »haben ihre Grenzen darin, dass in dieser Kontingenz sich Kraftlinien abzeichnen« (Merleau-Ponty 1947/1990). In der Vermittlung von Nah- und Fernzielen, von subjektiven und objektiven Momenten der Kräfteverhältnisse, von verschiedenen Kampfformen und -terrains gilt es für die politischen Akteure immer wieder, »den K in das Bewusstsein des K« zu verwandeln (…).
Von der K-Form kann sowohl im Sinne des praktisch-politischen Umgangs mit K.en (taktische, strategische, moralische Fragen) als auch des strukturellen K (als geschichtliche Resultante und Voraussetzung politischen Handelns) gesprochen werden. In diesem Sinne verweist Engels auf die ›vorgefundenen‹, »von der geschichtlichen Entwicklung geschaffenen« K.e (…) und damit auf einen ›starken‹ Begriff von K.en als latenten, zumeist unbewusst bleibenden Handlungsvoraussetzungen. Für die politisch-strategische Orientierung linker Bewegung und die marxistische Geschichtsschreibung sind Diskussionen um den »Klassen-K«, die Frage des »kleineren Übels« oder den »historischen K« der italienischen Kommunisten mit den fortschrittlichen Kräften der ›katholischen Welt‹ wichtig geworden.
II. Das Thema K ist eines der schmerzlichsten in der marxistischen Tradition, weil K.e in der Regel mit der Abweichung der Politik von den grundsätzlichen Zielen der Bewegung wahrgenommen werden. Auch wenn auf der Linie der praktischen Politik die Möglichkeit von K.en nicht ausgeschlossen wird, wird aus dieser Sicht davon ausgegangen, der K halte den tatsächlichen Kampf nur auf und sei selbst kein Mittel zur Veränderung der Gesellschaft. Er gehört demnach, selbst wenn er von politischer Berechnung und Notwendigkeit diktiert ist, zur Kategorie des Niederen. Unter Verwendung mittelalterlicher, volkstümlich-christlicher Motive wird der K als ›Pakt mit dem Teufel‹ interpretiert und damit bewusst oder unbewusst die Sündhaftigkeit des K und gleichzeitig die Fiktion eines beliebigen K unterstellt. Als einzige Rechtfertigung für diesen K bleibt, dass er ausschließlich mit dem Ziel geschlossen wurde, »dass man den Teufel betrügt« (Marx). Umso verschlossener ist die Frage nach der Un-/Annehmbarkeit eines K. Besteht in marxistischer Theorie Einigkeit darin, dass in Abgrenzung vom ›Opportunismus‹ der Bezug aufs Endziel für die ›Zulässigkeit› eines K maßgeblich ist, so taucht die Frage nach der Bedeutung einer ›Kultur des K‹ nach geschichtlicher Lage sehr unterschiedlich auf, verknüpft mit Fragen des Machterhalts, der Einheit der Bewegung und politisch-moralischer Orientierungen.
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