Marxismus Lenins
A: mārksīya līnīn. – E: Lenin’s Marxism. – F: marxisme de Lénine. – R: marksizm Lenina. – S: marxismo de Lenin. – C: Lièníng de Mǎkèsī zhǔyì 列宁的马克思主义
Wolfgang Küttler
HKWM 8/II, 2015, Spalten 1937-1964
Werk und Wirken Lenins haben zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Marxismus im 20. Jh. Dass drei bis vier Jahrzehnte nach dem Eintreffen Lenins in Petrograd im April 1917 »ein Drittel der Menschheit unter der Herrschaft von Regimen« lebte, die »unmittelbar« aus dieser Revolution »und Lenins organisatorischem Modell, der Kommunistischen Partei, hervorgegangen waren«, erweist nach Eric Hobsbawm die 1917 initiierten Umwälzungen als die »gewaltigste Revolutionsbewegung der modernen Geschichte« (1994/2010, 79). Gemessen am emanzipatorischen Kernanliegen von Marx, stellt sich die Bilanz der weltgeschichtlichen Rolle des russischen Revolutionsführers und der von ihm ausgehenden staatssozialistischen Alternative zum Kapitalismus im 20. Jh. jedoch als tief widersprüchlich dar. Sie steht für die zwiespältige Doppelfunktion des Marxismus in dieser Epoche seiner größten Verbreitung und später tiefsten Krise – zum einen als revolutionäre Orientierung im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung, zum anderen als Herrschaftsideologie von Staaten, in denen der Marxismus als Leninismus bzw. Marxismus-Leninismus (ML) zur Macht gekommen war. Daraus ergaben sich gleichermaßen starke Potenziale weltweiter Ausstrahlung wie gravierender Fehlentwicklungen, beides zumeist unauflöslich verflochten. Um neue Kraft und Ausstrahlung zu gewinnen, musste der in den Untergang der sowjetisch geprägten Regime in Europa seit 1989 hineingezogene Marxismus zunächst davon befreit werden, »theoretisch mit dem Leninismus und praktisch mit den leninistischen Regimen in eins gesetzt zu werden« (Hobsbawm 2012, 14f).
Georges Labica arbeitete seit Anfang der 1980er Jahre an einer »Erneuerung des Leninismus« gegen das im Staatssozialismus herrschende Leninismus-Dogma (1984/1986, 123). Dabei kam es ihm auf ein Denken in leninscher Tradition an, das nicht den Anspruch des Modellcharakters hat, mit dem »das Empirische einer historischen Ausnahmesituation zur Allgemeinheit« erhoben wird, sondern Grundlage »einer politischen Praxis« sein soll, die »in notwendigerweise besonderen Konjunkturen« auf das Hervorbringen einer »kommunistischen Revolution« hinwirkt (ebd.). Er nennt diese Art erneuernder Kritik, mit der er dem Umgang mit dem Erbe Lenins eine konstruktive Wendung gibt, die »Arbeit des Besonderen« (116). Dazu sei die historische Konkretisierung wie kritische Prüfung der »Eingriffe« Lenins und ihrer Folgen für die Entwicklung des Marxismus nötig (117).
Der trotz aller Zweifel von Lenin bis Gorbatschow lebendig gebliebene »Wärmestrom der Hoffnung auf Wende« (Mayer 1995, 300) kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Marxismus schon lange vor der »postkommunistischen« bzw. »postsowjetischen« Situation (Haug 1993) sich »auf dem Rückzug« befand (Hobsbawm 2012, 360) – auch in dem Sinne, dass die »sowjetische Orthodoxie […] jede wirklich marxistische Analyse dessen, was in der sowjetischen Gesellschaft geschehen war« (361), ausschloss. Während die Kapitalismusanalyse und -kritik von Marx ihre Gültigkeit behielt, ist das Leninbild seit 1989/91 noch stärker als zuvor in den Schatten des Stalinismus und seiner Opfer getaucht. Wolfgang Ruge sieht die Tragik Lenins darin, »dass er zwar viel erreichte, dass das Erreichte aber ganz und gar nicht dem entsprach, was er zu verwirklichen angetreten war«, und dass das schließlich von der Geschichte »überrollte« Vorhaben »Millionen Menschenleben« forderte (2010, 398). Je mehr aber Lenin seit 1989/91 auch unter Marxisten und Linken vorwiegend vom Scheitern des sowjetischen Staatssozialismus her beurteilt wird, desto dringender ist eine historisch-kritische Rekonstruktion seiner Auffassungen.
Im Folgenden geht es zunächst darum, Lenins Bedeutung in der Differenz und Kontinuität zu Marx einerseits, zu Stalin und dem von ihm kanonisierten ML andererseits zu erfassen. Vom Ausgang der Epoche her gesehen kommt die weitergehende Frage nach den allgemeinen Entwicklungstendenzen hinzu, in deren Zusammenhang Lenins Werk und Wirkung am Anfang des 21. Jh. – unter den Bedingungen des auf der Grundlage hochtechnologischer Produktivkräfte weltweit herrschenden Kapitalismus – stehen.
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