Maoismus
A: māwīya. – E: Maoism. – F: maoïsme. – R: maoizm. – S: maoísmo. – C: Máo zhǔyì 毛主义
Henning Böke
HKWM 8/II, 2015, Spalten 1689-1705
Als maoistisch werden seit Mitte der 1960er Jahre, als sich das ideologische Zerwürfnis zwischen KPdSU und KPCh als langfristig abzeichnet, kommunistische Strömungen bezeichnet, die sich auf die Theorie und Praxis des chinesischen Revolutionsführers Mao Zedong und der KPCh (bis 1976) berufen. Als typische Charakteristika ihrer Politik gelten: Ablehnung des Sozialismusmodells der SU und der Strategie der mit ihr verbündeten kommunistischen Parteien; Orientierung auf die Dritte Welt als treibende Kraft der Weltrevolution (mit starker Fokussierung auf Guerillakriege); Hervorhebung der permanenten revolutionären Umwälzung der Gesellschaft auch im Sozialismus (nach dem Modell der chinesischen Kulturrevolution; Zurückweisung ökonomistischer und deterministischer Konzeptionen, stattdessen Bezugnahme auf die Produktionsverhältnisse als zentrale Kategorie und starke Betonung der Politik, der Revolutionierung des Bewusstseins und des Überbaus.
Der Terminus M war zunächst eine Fremdzuschreibung aus sowjetischer bzw. prosowjetischer (vgl. Fahrle/Schöttler 1969) und westlicher Perspektive. Erst nach 1980, als die tiefgreifende Revision der Politik der KPCh maoistische Gruppierungen weltweit in eine Identitätskrise stürzte, formulierten einzelne Guerillaorganisationen in Lateinamerika und Asien die Doktrin eines Marxismus-Leninismus-Maoismus (MLM). Im Sprachgebrauch der KPCh hat der Ausdruck M niemals Fuß fassen können; er wird dort nur zur Bezeichnung maoistischer Strömungen im Ausland verwendet. Als auf China bezogenes Supplement des Marxismus-Leninismus werden in China die Mao-Zedong-Ideen verstanden. Die sich auf Mao berufenden und mit China sympathisierenden Organisationen in aller Welt bezeichneten sich selbst in der Regel nicht als maoistisch, sondern als marxistisch-leninistisch (häufig im Namenskürzel durch »ML« gekennzeichnet). Damit war der Anspruch verbunden, die ›authentische‹ Lehre des revolutionären ML zu vertreten, die von der KPdSU und ihren Verbündeten nach Stalins Tod verraten worden sei. Die Verknüpfung von marxistisch-leninistischer Orthodoxie mit Theorien von Mao, die in mancher Hinsicht eigenständige und gegenläufige Elemente umfassen, führte jedoch zu Mehrdeutigkeiten und breiten Interpretationsspielräumen, die eine Zersplitterung maoistischer Strömungen zur Folge hatten.
Als relevante politische Strömung hat sich der M bis zum Beginn des 21. Jh. nur in wenigen Ländern des Südens – v.a. Indien und Nepal – behaupten können. In der nördlich-westlichen Welt war er ein Phänomen von relativ kurzer Dauer, verankert in den außerparlamentarischen Bewegungen der Zeit um 1968 und in hohem Maße orientiert am Modell der von Mao 1966 eingeleiteten »Kulturrevolution«, von der man sich eine Wiedergewinnung der revolutionären Dynamik des Sozialismus mit einem neuen Gesellschaftsmodell auf massendemokratischer Grundlage versprach. Über den engeren organisationspolitischen Horizont hinaus hat der M dort eine erhebliche Ausstrahlungskraft auf jene [i:Intellektuelle]] entfaltet, welche sich mit Fragen der Entwicklung eines nicht-ökonomistischen Marxismus befassten.
➫ Agrarfrage, Antagonismus, antiautoritäre Bewegung, Antikolonialismus, Arbeitsteilung, Avantgarde, chinesische Kulturrevolution, chinesische Revolution, Dialektik, Diktatur des Proletariats, Drei-Welten-Theorie, Dritte Welt, Egalitarismus, Entmaoisierung, Entstalinisierung, Eurokommunismus, Fokustheorie, Fordismus, friedliche Koexistenz, geistige und körperliche Arbeit, Gleichmacherei, Großer Sprung, Grundwiderspruch (Haupt-/Nebenwiderspruch, Guerilla, Hegemonismus, Kampf der zwei Linien, K-Gruppen, Klassenkampf, Komintern, Krise des Fordismus, Kulturrevolution, Linksradikalismus, Liuismus, Mao-Zedong-Ideen, Marxismus, Marxismus-Leninismus, Modernisierung, Neue Linke, Nord-Süd-Konflikt, Ökonomismus, Operaismus, Personenkult, Produktivismus, Revisionismus, Sektierertum, Selbstverwaltung, Self-Reliance, Sinisierung, Sozialimperialismus, Spätkapitalismus, Stalinismus, Technikdeterminismus, Technikkritik, Technokratie, Trotzkismus, Überbau, Ultraimperialismus, Ultralinke, Volkskommune, Volkskrieg, Weltrevolution, Widersprüche im Volke, Zweite Internationale