Fabianismus
A: al-fābīya. – E: Fabianism. – F: fabianisme. – R: fabianstvo. – S: fabianismo. – C: feibian zhuyi
Reinhard Markner
HKWM 4, 1999, Spalten 9-18
F bezeichnet die politischen Konzepte, Strategien und Aktivitäten der Fabian Society (FS), insbesondere in der Zeit von 1887 bis 1918. Die FS geht im Januar 1884 aus der Londoner Fellowship of the New Life hervor, die sich im Jahr zuvor auf Initiative von Edward Pease konstituiert hat, um im Sinne des schottisch-amerikanischen Utopisten Thomas Davidson lebens- und sozialreformerisch tätig zu werden. Pease, später viele Jahre lang Sekretär der Gesellschaft, ist Mitglied der 1881 gegründeten Democratic Federation. Diese zunächst neochartistische Organisation wird von ihrem Vorsitzenden Henry M. Hyndman als erste britische Partei auf sozialistischen Kurs gebracht: 1884 erfolgt die Umbenennung in Social Democratic Federation (SDF). Obwohl das in diesem Jahr verabschiedete Reformgesetz dem größten Teil der männlichen Bevölkerung des Vereinigten Königreichs das Stimmrecht zuspricht, bleibt diese Partei stets weit entfernt von den Wahlerfolgen ihrer Vorbilder auf dem europäischen Kontinent. Nur eine politische Randexistenz ist auch der im gleichen Jahr von ihr abgespaltenen Socialist League beschieden; sie entgleitet schon bald der Führung des von Engels unterstützten William Morris und nimmt einen anarchistischen Weg in die Bedeutungslosigkeit.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Verzicht der Fabier auf herkömmliche Parteiarbeit. »Die ihrem Ursprunge und ihren Mitgliedern nach zur Bourgeoisie gehörende Gesellschaft«, so erläutert Sidney Webb, ihr neben George Bernard Shaw bedeutendstes Mitglied, entscheidet sich dafür, zur Beförderung des Sozialismus eine Strategie anzuwenden, »die in England mit so großem Erfolge von früheren Verbindungen innerhalb der Bourgeoisie – wie den Anhängern Benthams, den Sklaverei-Gegnern, und der Liga zur Aufhebung der Kornzölle« – verfolgt wurde: das beharrliche Einwirken auf die intellektuellen und politischen Eliten, die »Durchdringung« ihrer ideologischen und organisatorischen Strukturen (1898). Die Gelegenheit schien günstig, hatte sich doch der Liberale Sir William Harcourt zu dem Ausruf »Wir sind jetzt alle Sozialisten!« hinreißen lassen. Dennoch waren Geduld und Entschlossenheit nötig, Eigenschaften, die der Namenspatron, der römische Feldherr Fabius, genannt Cunctator, im Kampf gegen Hannibal an den Tag gelegt hatte. Der F setzte nicht auf eine Entscheidungsschlacht, die Revolution, und da »die Vorstellung von einem ›klassenbewussten Proletariat‹« den Verhältnissen unangemessen, geradezu »unenglisch« sei (X), auch nicht auf eine Mobilisierung der Arbeiterschaft.
Wie die beiden ersten, im Gründungsjahr publizierten Flugschriften zeigen, trägt die Gesellschaftskritik der Fabier zunächst keine eindeutig sozialistischen Züge. Fabian Tract Nr. 1 fragt anklagend Why Are the Many Poor?; Nr. 2 gibt Shaw den Charakter eines Manifests, das mit seinen Forderungen nach Landreform, Abschaffung indirekter Steuern und Frauenwahlrecht einen radikalliberalen Charakter hatte. In Nr. 6 (1887) konfrontiert Shaw den progressiven Flügel der Liberalen Partei mit The True Radical Programme. Nr. 4, What Socialism Is (1886), gibt der Erwartung Ausdruck, gerade daraus, dass der britische Sozialismus noch zwischen einem etatistischen Kollektivismus und einem individualistischen Anarchismus schwanke, werde er seine eigentümliche Kraft beziehen können. Zur Erläuterung der ersten Position beruft man sich, nachdem Engels als Autor abgesagt hat (vgl. Pugh 1984), auf Bebel, den Anarchismus vertritt die Fabierin Charlotte Wilson. Erst das folgende Jahr bringt mit Webbs statistischer Argumentationshilfe Facts for Socialists (Nr. 5) und der Annahme einer Grundsatzerklärung (Basis) das Ende dieser Orientierungsphase. An die Stelle eines Aufrufs zur gesellschaftlichen Erneuerung im Interesse der »allgemeinen Wohlfahrt und Glückseligkeit« (vgl. Pease 1925) tritt die schlichte Feststellung: »Die Gesellschaft der Fabier besteht aus Sozialisten.« (Reichel 1947)
➫ Arbeiterbewegung, Arbeiterklasse, Armut/Reichtum, Autorität, Chartismus, Eugenik, Gewerkschaften, Kathedersozialismus, Liberalismus, Opportunismus, Parlamentarismus, Revolution, Reformismus, Sozialismus, Sozialpolitik, Staat, Stalinismus, Revisionismus, Utopie, Wahlen