freie Liebe
A: al-ḥubb al-ḥurr. – E: free love. – F: amour libre. – R: svobodnaja ljubov’. – S: amor libre. – C: ziyou xingai
Victor Rego Diaz
HKWM 4, 1999, Spalten 904-916
»Bei Tag / bei Nacht, spät, früh, allein und in Gesellschaft / Zu Hause, draußen, wachend und im Schlaf / War meine Sorge stets, sie zu vermählen / Nun, da ich einen Herrn ihr ausgemittelt / Von fürstlicher Verwandschaft, schönen Gütern / Jung, edel auferzogen, ausstaffiert / Wie man wohl sagt mit ritterlichen Gaben / Und dann ein albern winselndes Geschöpf / Ein weinerliches Püppchen da zu haben / Die, wenn ihr Glück erscheint, zur Antwort gibt / ›Heiraten will ich nicht, ich kann nicht lieben / Ich bin zu jung, – ich bitt, entschuldigt mich.‹« (Shakespeare, Romeo und Julia, III.5) Das umreißt den Stoff einer bürgerlichen Tragödie. Die Problematik ist mehrfach bestimmt, ihr Ausgang notwendig tragisch. Die Väter organisieren die Heirat ihrer Töchter nach Maßgaben des Eigentums und ggf. des Standes. In den gleichen Bürgerfamilien wird individuelles Gefühlsleben herangezüchtet, was, kaum entwickelt, sogleich in Dienst genommen wird für jene Zwecke. So erfahren die einzelnen die Liebe als eine jähe und zugleich verbotene Verwundung, ein Verlangen, das um so heftiger wird, je mehr seine Äußerung Schuld ist. So wird die verbotene Liebe Stoff für die bürgerliche Tragödie. Schonungslos wird als Behinderung preisgegeben, was zugleich noch einverständig bürgerliche Ordnung stiftet: der Stand, die Konvention, die Klasse als Rahmen, in dem Ehen geschlossen werden, sollen sie nicht als Mesalliancen sozialen Ausschluss erfahren. Die Gewöhnlichkeit der bürgerlichen Liebestragödie bringt auf der anderen Seite die Gewöhnung an die Gestalt der Maitresse, die der als liebeleer akzeptierten Ehe wenigstens für die begüterten Männer Sinnenfreuden bringen soll, während sich die Ehefrauen einen Geliebten aus dem Hauspersonal oder unter den Freunden der Familie wählen. Natürlich gilt der allseits begangene Ehebruch als weitere Schuld. – In diesem Horizont entsteht in der zweiten Hälfte des 19. Jh. unter fortschrittlichen Bürgern die Forderung nach fL in eins mit politischer Kritik an der bürgerlichen Doppelmoral.
Im Gefolge der Revolution von 1917 brach sich das Verlangen nach fL Bahn, bis es im Zuge der Stalinisierung erstickt wurde. Die ›sexuelle Revolution‹ in den 1960er Jahren begründete eine Bewegung, die die tradierte heterosexuelle Paar- und Familienromantik dekonstruierte und die Befriedigung sexueller Bedürfnisse in alternativen, selbstbestimmten Lebensweisen erprobte. Damit erfolgte eine Verschiebung des Verständnisses von fL in Richtung auf ›freien Sex ohne moralische Konventionen‹. Unter Wiederaufnahme einiger Überlegungen von Herbert Marcuse entwickelte sich in in den 1990er Jahren ein Diskurs, der die Frage der sexuellen Bedürfnisse als Teil eines umfassenderen Projekts der Befreiung der Sinnlichkeit verstand.
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