Fiktionalismus
A: ḫayālīya. – E: fictionalism. – F: fictionnalisme. – R: fikcionalizm. – S: ficcionalismo. – C: xugon zhuyi
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 4, 1999, Spalten 449-463
F als Ausdehnung des Fiktiven auf dessen Widerlager, die Wirklichkeit, hat zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche Bedeutungen angenommen. F kann eine Widerstandsideologie gegen eine bestimmte, nur zu reale Herrschaftsmacht sein, der man die Welt überlässt, indem man sie zugleich zum bloßen Schein erklärt. In der Epoche der ›gerechneten‹ Bilder bedeutet der F das Ende aller Kritik. Die Wirklichkeit angesichts der industriellen Epatierung der spät- oder postbürgerlichen Sinne durch eine weltumspannende kapitalistische Fiktionsapparatur zur Fiktion zu erklären, ist affirmativ geworden.
Viele Strömungen und Motive aus Vergangenheit und Gegenwart fließen zusammen in der Apotheose der Fiktion, die Realität abschüttelt. Material liefern die in der Geschichte periodisch aufgetretenen Vorstöße zur Abkoppelung der Fiktion von ihrem komplementären Gegenteil, nachdem im Namen der Wahrheit der Legitimitätsraum und damit die Produktivität der Fiktion von der Antike bis in die bürgerliche Neuzeit restriktiv reguliert worden ist. Zudem stützt der F sich darauf, dass Wirklichkeit ohne fiktive Momente nicht zu haben ist. Positivismus und F treffen sich in der Verdrängung dieser Dialektik. Während der Faktenglaube die am Paradigma der Naturbeherrschung sich orientierenden Wissenschaftsrichtungen dominiert, dringt in den ›philosophischen‹ (die Welt interpretierenden) Disziplinen der F als das entgegengesetzte Extrem nach vorn. Zusammen suchen die beiden gegensätzlichen Formationen das Feld unter sich aufzuteilen, das die gesellschaftliche und historische Analyse der bestehenden Verhältnisse beansprucht.
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