Kontingenz
A: muṣādafah mašrūṭah. – E: contingency. – F: contingence. – R: kontingencnost. – S: contingencia. – C: oufaxing 偶发性
Juha Koivisto, Mikko Lahtinen
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1688-1698
Das Adjektiv ›kontingent‹ bezeichnet etwas, das nicht notwendig, jedoch möglich ist; ferner etwas, das von anderen Dingen abhängt, die vielleicht so vielfältig und komplex sind, dass ihr Auftreten schwer vorherzusagen ist. Aufgrund dieser Unsicherheit wird K oft als Bedrohung des Sinnbedürfnisses erfahren, sowohl in Bezug auf den Geschichtsverlauf, als auch auf die eigenen Lebensumstände. Gegen religiöse oder philosophische Überzeichnungen dieser Bedrohung ist festzuhalten, dass das Alltagsleben unter Bedingungen totaler Unvorhersehbarkeit, also des Chaos, kaum möglich wäre. Es ließe sich sogar sagen, dass alle gesellschaftlichen Formen historisch, folglich selber kontingente Formen der K-Bewältigung sind. Eine dieser Formen ist Planung, also der Versuch – wie (in)effektiv auch immer – das Leben ›vorhersehbar‹ bzw. überschaubar zu machen und die Ausgeliefertheit zu reduzieren. Dabei empfiehlt sich, einen Plan B zu haben, auch wenn die Erfahrung zeigt, dass auch dieser oft versagt. K wirft somit die Frage der Orientierung auf: wie handeln in neuartigen Situationen? Die Neigung, »in den Launen Fortunas die ›List‹ einer zielgewissen ›Vernunft‹ am Werk zu sehen, macht sich als […] dogmatisierte Gläubigkeit verdächtig, deformierend, was Aufklärung einmal wollte« (Köhler 1973/1993).
Im Deutschen wird zumeist von »Zufall« gesprochen, da sich der Ausdruck ›K‹ »nicht eingebürgert« hat (Adorno). Dem kommt die in der Wortbildung eingeschlossene Metaphorik entgegen: ›K‹ kommt »vom lateinischen […] ›contingere‹, wörtlich ›zusammen (sich) berühren‹, was etwa dem deutschen ›zu(sammen)fallen‹, wovon ›Zufall‹ […], entspricht« (Brugger 1976). »›Kontingent‹ heißt ›zufällig‹«, schreibt Adorno; »aber nicht das einzelne Zufällige, nicht einmal die davon abstrahierte allgemeine Zufälligkeit, sondern Zufälligkeit als wesentlicher Charakter des Lebens« (…). Auch wenn sich das deutsche Wort ›Zufall‹ somit als Synonym für K auffassen lässt, entspringt dem Sprachgebrauch, der es der ›Notwendigkeit‹ im Sinne der ›Gesetzmäßigkeit‹ entgegensetzt, ein Problem für emanzipatorisches Handeln.
➫ Ableitung, abstrakt/konkret, Althusser-Schule, Anarchie der Produktion, Artikulation/Gliederung, Ausdruck, Basis, Bestimmung/Determination, Determinismus, Dialektik, Diskursanalyse, einfach/komplex, eingreifendes Denken, Einheit, Einzelnes/Besonderes/Allgemeines, Element, Elementarform, Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, Entwicklung, Erscheinung/Erscheinungsform, Evolutionismus, Existenz, Existenzialismus, Fatalismus, Funktionalismus, Gesetz (soziales), Geworfenheit, Handlungsfähigkeit, Katastrophe, Kohärenz, Konformismus/Nonkonformismus, Konjunktur (politisch-historische), Kräfteverhältnis, kulturelle Wende, Möglichkeit, Notwendigkeit, Oberfläche/Tiefe, Ökonomismus, Revolution, Situation, Strategie/Taktik, Struktur, Subjekt-Objekt, Überdeterminierung, Wesen/Erscheinung, Zufall