Gandhismus

A: fikr ġandī. – E: Gandhism. – F: gandhisme. – R: gandizm. – S: gandismo. – C: gandi zhuyi 甘地主义

Ajit Roy (TL) (I.), Bastiaan Wielenga (II.)

HKWM 4, 1999, Spalten 1193-1209

I. G bezeichnet die gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und religiösen Leitlinien, die Mohandas Karamchand Gandhi (1869-1948) im Widerstand gegen das rassistische System in Südafrika und gegen das britische Kolonialsystem in Indien entwickelt und erprobt hat. Gandhis Reden, Schriften und Briefe während der 54 Jahre seines öffentlichen Wirkens (1893-1947) umfassen rund 100 dicke Bände mit etwa 50000 Seiten. Vieles davon ist erkennbar widersprüchlich. »Einen G gibt es nicht«, sagte er einmal, »und ich will keine Sekte hinterlassen. Ich beanspruche nicht, ein neues Prinzip oder eine Lehre begründet zu haben. Ich habe die Welt nichts Neues zu lehren.« (Zit.n. Rajagopalachari 1974) Er sagte aber auch: »Sie können mich töten, aber nicht den G« (…). Beides ist paradoxerweise richtig. Auch wenn eine systematisch entwickelte Lehre fehlt, gibt es im Leben und in der Lehre Gandhis bei allen bedeutsamen Veränderungen, die mit der Zeit entstanden sind, einige wesentliche Elemente, die ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Auch nach seiner Ermordung am 30. Januar 1948 wurde und wird eine große Zahl von Menschen innerhalb und außerhalb Indiens von ihnen beeinflusst. Gandhis Lebensstil war bemerkenswert einfach. Er hatte keinen persönlichen Besitz außer ein paar Leinentüchern, in die er sich hüllte, einem einfachen Schal, je einem Paar lederner und hölzerner Sandalen, einer Brille, einer Schale, einem Löffel und einer Uhr. Dies und seine religiöse Sprache gaben ihm das Image eines Heiligen, den das indische Volk respektvoll den »Mahatma« (große Seele) nannte. Doch war er hauptsächlich ein Politiker, der über einen scharfen, juristisch geschulten Verstand verfügte (er hatte sich in England als Rechtsanwalt qualifiziert). Im Rahmen seines eigenen Bezugssystems war er ein großer Taktiker.

Gandhis ursprünglicher Ausgangspunkt war die kompromisslose Feindschaft gegenüber der modernen industriellen Zivilisation, die er ein »Reich des Satans« nannte (…), und der nostalgische Rückblick auf die altindische Kultur. Nach und nach arrangiert er sich aber mit der modernen Industrie und akzeptiert viele ihrer Errungenschaften wie die Elektrizität, den Schiffbau, Eisenkonstruktionen, Maschinenbau usw. (vgl. z.B. Harijan).

II. Gandhi hat die Linke in Indien und darüber hinaus theoretisch und praktisch vor verwirrende Fragen gestellt. Wie kein anderer hat er die Massen Indiens gegen die britische Kolonialherrschaft zu mobilisieren verstanden. Als Sozialreformer hat er inhumane soziale Praktiken wie z.B. die Unberührbarkeit scharf kritisiert und praktisch angegriffen. Gegenüber den Tendenzen zur Aufspaltung der Gesellschaft nach religiöser Identität hat er sich für die Einheit von Hindus und Muslims eingesetzt. Andererseits hat er sich der ökonomischen Modernisierung Indiens widersetzt, den organisierten Klassenkampf abgelehnt, bewaffneten Widerstand zugunsten von gewaltlosen Kampfmethoden verworfen und Arbeitsteilung im Rahmen des Kastensystems gutgeheißen. Den einen galt er als religiöser Obskurantist und Handlanger der Bourgeoisie, den anderen als religiöser Humanist. Während zu seinen Lebzeiten die Fragen von Religion und Politik, nationaler Einheit, Klassenpolitik und Gewaltlosigkeit zentral standen, erscheint er neuerdings als hellsichtiger, ökologisch denkender Reformer und als ein an der Zivilgesellschaft orientierter Kritiker der modernen Ökonomie sowie des zentralisierten Staates.

Die Distanz zwischen dem Marx des Manifest mit seinem Lob der kapitalistischen Revolution und dem Gandhi der Schrift Hind Swaraj (Indian Home Rule) von 1908 mit seiner Kritik der industriellen Zivilisation scheint unüberbrückbar. Aber zwischen dem späteren Marx – der Pariser Kommune, der Korrespondenz mit den russischen Populisten, der ethnologischen Studien – und dem späteren Gandhi, der eine sozial und ökologisch verantwortbare Industrialisierung befürwortete, gibt es nicht nur Gegensätze, sondern auch, wie sich in neuerlichen Bündnissen andeutet, denkbare Berührungspunkte. Auf einem marxistischen Symposium Ende der 1960er Jahre wurde der Mangel an Verständnis für Gandhi und den G im Ganzen darauf zurückgeführt, dass Gandhi »in vielen lebenswichtigen Aspekten Indien besser verstanden hatte als die Kommunisten« (Rao 1969). Am Beispiel einer Reihe von Führern der indischen Linken lässt sich die Bandbreite der Einschätzungen darstellen.

Agrarfrage, Antikolonialismus, Aufstand, Bauern, Befreiung, Bodenreform, Bourgeoisie, Charisma/charismatische Führung, Dritte Welt, Entkolonisierung, ethisch-politisch, Eurozentrismus, Frauenemanzipation, Gegenmacht, Gewalt, Gramscismus, Indische Frage, Industriegesellschaft, Kaste, Klassenherrschaft, Klassenkampf, Kolonialismus, Komintern, Marxismus, Marxismus-Leninismus, moralische Ökonomie, nachhaltige Entwicklung, nationale Befreiung, nationale Bourgeoisie, Ökologie, passive Revolution, Pazifismus, Self-reliance, Volkstümler, Widerstand, Zivilgesellschaft

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g/gandhismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/03/10 14:12 von christian     Nach oben
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