moralischer Verschleiß

A: al-balā al-maʽnawī. – E: moral depreciation. – F: usure morale. – R: moral’nyj iznos. – S: desgaste moral. – C: wúxíng sǔnhào 无形损耗

Wolfgang Fritz Haug

HKWM 9/II, 2024, Spalten 1444-1461

Die sprachliche Gestalt des von Marx geprägten Terminus mV ist ein dialektisches Versteck. Was er bezeichnet, ist weder ein Akt der Moral noch des Verschleißens in irgendeinem umgangssprachlichen Sinn. Gemeint ist die Entwertung noch unverschlissener Produktionsanlagen aufgrund technischen Fortschritts, welcher zu deren periodischem Abwracken führt. Was als solches vom Standpunkt gewöhnlicher Lebenspraxis und erst recht in der Perspektive einer vernünftigen Gesellschaftsform als widersinnig erscheint, analysiert Marx als einen Knotenpunkt kapitalistischer Profitlogik und Akkumulation, ja auch der historisch-transitorischen Progressivität des Kapitalismus. Wie eine absurde Parodie des beim unter nordamerikanischen Indigenen gefeierten Potlatch mitunter praktizierten Rituals, bei dem man das Geschenk vernichtet, das man macht, um Reichtum und sozialen Rang zu zeigen und letzteren somit ›opfernd‹ zu erhalten, dreht es sich beim mV darum, unverschlissenes Realkapital zu vernichten, um dem in dessen stofflicher Naturalform sich verwertenden Wert eine aktuelle Gestalt zu geben und ihn so ›auf den Stand‹ zu bringen und zu erhalten.

Im periodischen mV kreuzen und überlagern sich die Weisen und Wirkungen der Entwicklung der Produktivkräfte mit der Modifikation der Produktionsverhältnisse in Gestalt der dem mV besonders entsprechenden und davon profitierenden Zentralisierung des Kapitals (Paradigma Aktiengesellschaften). Diese Prozesse entscheiden zugleich über das Ausmaß des tendenziellen Falls der Profitrate und die Periodizität der resultierenden kleinen und großen Krisenphasen. Bei alledem komprimiert sich zunehmend die Zeitlichkeit des Kapitalprozesses. Marx sieht in dieser komplexen Sequenz die schattenhaft sich andeutende Zukunft einer Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise.

In die staatssozialistische Ökonomik des 20. Jh. hält das marxsche mV-Konzept Einzug mit dem – gegen auf ›Klassikerzitate‹ pochende Widerstände – sich durchsetzenden Verständnis der sozialistischen Produktionsweise als einer Warenproduktion eigenen Rechts. In der Phase der sog. Digitalisierung und der Ausstiegsantworten auf die Klimakrise erhält die politisch-ethische Konnotation des marxschen Begriffs im 21. Jh. eine umfassend neue Qualität.

Akkumulation, ästhetische Abstraktion, Automation, Extraprofit, faux frais, Gebrauchswert, High-Tech-Industrie, hochtechnologische Produktionsweise, Innovation, Kapitalentwertung/-vernichtung, kapitalistische Produktionsweise, Kapital (konstantes und variables), Kapitalumschlag, Konkurrenz, Konsument, Konsumismus, Konsumnorm/Konsumweise, Konsumtion, Konzentration und Zentralisation des Kapitals, Kostpreis, Krise, Krisentheorien, Lange Wellen der Konjunktur, Marktpreis, Maschinerie, Materialität (historische), Materie, Mehrwert, Mehrwertrate, Mode, Naturalform, notwendige Arbeit/Mehrarbeit, Ökosozialismus, organische Zusammensetzung, Planwirtschaft, Produktionsmittel/Arbeitsmittel, Produktionspreis, Produktivkräfte, Produktivkräfte/Produktionsverhältnisse, Produktivkraftentwicklung, Profit, Profitrate, Städtebau, stofflich, Surplus, Technikentwicklung/technologische Revolutionen, technischer Fortschritt, Tendenz/Tendenzgesetz, tendenzieller Fall der Profitrate, Verwertung, Warenästhetik, Wert, Wertform, Wertgesetz, wissenschaftlich-technische Revolution, Zyklen in der Planwirtschaft

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m/moralischer_verschleiss.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/05 23:17 von christian     Nach oben
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