Marxistsein/Marxistinsein
A: mārksī, mārksīya. – E: being marxist. – F: être marxiste. – R: byt’ marksistom, byt’ marksistkoj. – S: ser marxista. – C: shì Mǎkèsī zhǔyìzhě 是马克思主义者
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 8/II, 2015, Spalten 1965-2026
Mit dem Objekt ›M‹ rücken die Subjekte ins Thema. Das Politische zeigt sich damit im Persönlichen. Nicht die Verhältnisse sind marxistisch, sondern die Menschen. Die ethische Dimension ihres Handelns und Sich-Haltens gerät ins Blickfeld. Der Objektivismus zieht sich zurück auf deren Bedingungen. Um historische Situierung und Generationsgemeinschaften anzudeuten, werden die im Folgenden exemplarisch zitierten Marxisten und Marxistinnen der ersten 130 Jahre nach dem Tode von Marx mit ihrem Geburtsjahr eingeführt. Die Weise, in der sie Eigentümlichkeiten ihrer spezifischen Daseinsform ausgesprochen haben, ist das Material. Von ihm gilt, was von Wolfgang Heises (Jg. 1925) Umgang mit dem in seiner Bibliothek versammelten Gedankenmaterial gesagt worden ist, dass er durch es hindurch auch »das nicht offen Mitteilbare, das vielleicht nicht einmal in eigenen Worten zu Fassende wenigstens als fremdes Denken präsent« machen konnte (Reschke 1999, 16). Gerade deshalb und in Erwartung unbequemer Wahrheiten wird auch ›Renegaten‹ aufmerksam zugehört.
Ungezählte haben sich als Marxisten verstanden. Auf dem Höhepunkt der revolutionären Kämpfe des 20. Jh. zählten sie nach Millionen. Zustrom erhalten sie, je nach historischer Konstellation, aus immer neuen Generationen und Weltgegenden. Sie haben gute Gründe dafür, »aber die Gründe sind eher leitende als zwingende«, so Norman Geras (Jg. 1943), und immer ist dabei »eine Art existenzieller Wahl, die jemand trifft«, mit im Spiel (2011, 5). Anders als übers Sozialist- oder Kommunistsein ist dennoch nur selten und eher beiläufig übers M, seine Triebkräfte und Praxen, seine Widersprüche und Krisen, seine Produktivität und seine vielfältigen Ausprägungen theoretisch reflektiert worden.
Solange der ›Staatssozialismus‹ den Alleinvertretungsanspruch des Marxismus behauptete und dessen Namen mit Marxismus-Leninismus überschrieb, reproduzierte er seine eigene zunehmende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit als äußeren Gegensatz zwischen ›idealsozialistischer‹ Gegenwelt des unorganisierten M und ›Realsozialismus‹ bzw., wie Johannes Agnoli (Jg. 1925) zu spotten liebte, der »nominalsozialistischen Länder« (in Mandel/Agnoli 1980, 17). Der Zusammenbruch der letzteren in Europa und die Integration der außereuropäischen parteikommunistisch beherrschten Volksrepubliken in den kapitalistischen Weltmarkt haben diesem Gegensatz die Grundlage entzogen. Aus dem Schatten der KP und ihrem noch 2010 von Hans Heinz Holz (Jg. 1927) bekräftigten Anspruch, »allein […] der Ort der historischen Wahrheit [zu] sein«, ist das M als eine geschichtliche Identitätsform eigenen Rechts neu hervorgetreten. Ob organisiert oder unorganisiert, bringt es seine intellektuellen Praxen der Analyse, Diskussion und Kommunikation in vielfältiges gesellschaftliches Engagement ein.
Die »postkommunistische Situation« (Haug 1993), in der M sich nunmehr auszuformen hat, ist determiniert durch die neoliberale Befreiung des Kapitals von den Fesseln der unterm Zeichen der Systemkonkurrenz erkämpften Sozialkompromisse und dem Schleifen der nationalstaatlichen Schutzschranken zum Weltmarkt hin im Zuge des beschleunigten Übergangs zum transnationalen Hightech-Kapitalismus. Dessen Krisen, begleitet von neuen Kriegsszenarien, halten die Welt seither in Atem. Diese Situation ist dadurch überdeterminiert, dass das Kapital, wie Georg Fülberth (Jg. 1939) bemerkt, »die Gesellschaft ständig umwälzt: durch technologische Innovationen und die Mobilisierung von Konsens, in dem die Volksmassen selbst als Subjekt ihres Begehrens zur Weiterentwicklung des Kapitalismus beitragen«, ein Prozess, der sich als ›passive Revolution‹ charakterisieren lässt: »die Unterklassen akzeptieren die Hegemonie des Kapitals und befestigen diese durch ihre eigene Mobilisierung selbst« (2013).
Den Marxismus mit seinen wissenschaftlichen Kerngehalten der Kritik der politischen Ökonomie und des Geschichtsmaterialismus sieht Fülberth in dieser Lage, »wenn er nicht völlig verschwindet, akademisch« werden (ebd.). Doch das theoretische und wissenschaftliche Moment des M ist weder auf Akademiker beschränkt noch an die akademischen Apparate gebunden. Zusammen mit dem von Louis Althusser (Jg. 1918) bekräftigten Anspruch, »dass ein Marxist weder in dem, was er schreibt, noch in dem, was er tut, kämpfen kann, ohne seinen [k:Kampf]] zu denken« (Marxist zu sein, 1975, 54), impliziert das M schon von seinem ersten Auftreten an eine geschichtsmaterialistische Blickwendung auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Der von Antonio Gramsci (Jg. 1891) sowohl aus der akademischen Einschließung als auch aus der Beschlagnahmung durch die Gestalt des ›freischwebenden‹ Literaten geholte, vom Vergesellschaftungshandeln ausgehende Begriff der »organischen Intellektuellen« ist geeignet, diese Seite des M zu fassen.
Zugleich zeigt sich das M als politisch-ethische Gestalt, da es die Einzelnen mit der Verantwortung für die gesellschaftliche Welt und ihre Naturverhältnisse konfrontiert. Die tätige Orientierung an dem »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (KHR, 1/385), und an der Forderung, die »Erde […] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen« (K III, 25/784), hat ihren Preis. Franz Mehring (Jg. 1846) hat als einer der Ersten zu Protokoll gegeben, dass »das Bekenntniß zum historischen Materialismus einen hohen sittlichen Idealismus erfordert, denn es zieht unfehlbar Armuth, Verfolgung und Verleumdung nach sich, während der historische Idealismus die Sache jedes Karriereschnaufers ist, denn er bietet die reichste Anwartschaft auf alle irdischen Glücksgüter, auf fette Sineküren« (1893, 442). Bertolt Brecht (Jg. 1898) hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Einzelnen zwar aus ethischen Gründen, nicht jedoch aus Selbstlosigkeit am M festhalten, sondern weil es ihnen etwas für ihr Leben Entscheidendes bringt. »Wer nicht fähig ist, über ein privates Unrecht, das ihm geschehen ist, zornig zu werden, der wird schwer kämpfen können. Wer nicht fähig ist, über andern angetanes Unrecht zornig zu werden, der wird nicht für die Große Ordnung kämpfen können.« (GW 12, 576)
Es genügt nicht, nur die Warum-Frage des M zu beantworten, rät Lucio Lombardo Radice (Jg. 1916). Man müsse »auch versuchen zu erklären, wie man Marxist ist«; dabei werde »klar, dass von ›Marxismus‹ ohne weiteres nicht mehr die Rede sein kann« (1978, 219f). Nicht jedoch auf Richtungsdifferenzen, sondern auf den Gegensatz zweier Weisen des M komme es an, nämlich auf die »entscheidende, methodologische Trennlinie zwischen konservativem und fortschrittlichem revolutionärem Marxismus«, frei nach Goethes Beschwörung »ewigen lebendigen Tuns«, »umzuschaffen das Geschaffne, damit sich’s nicht zum Starren waffne« (Eins und Alles, BA 1, 540). Doch dieses Wagnis des Umschaffens, das Aufbrechen des sedimentierten Marxismus, um ihm auf die Sprünge zu helfen, in einer sich verändernden Wirklichkeit anzukommen, führt unvermeidlich in Konflikte nicht nur mit den Konservativen, die sich mit Erstarrung wappnen, sondern auch unter denen, die im Offenen nach neuen Wegen suchen. Daher gilt es, »die lebendigen und gelebten Widersprüche, d.h. die Dialektik« des M zu denken (Lefebvre 1959, 683), also auch die innermarxistischen Konflikte, nicht nur die des M in bürgerlich-kapitalistischer Umgebung.
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