Unterschiede
Hier werden die Unterschiede zwischen zwei Versionen gezeigt.
k:konsens [2018/03/07 17:03] flo |
k:konsens [2024/02/20 07:48] (aktuell) christian |
||
---|---|---|---|
Zeile 10: | Zeile 10: | ||
- | I. K, Übereinstimmung, Zustimmung oder Einwilligung in Bezug auf die Organisation eines [[g:Gemeinwesen]]s und seiner Funktionen ist von grundlegender Bedeutung angesichts struktureller [[k:Konflikttheorien|Konflikt]]potenziale. In allen Gesellschaften ohne staatlich reproduzierte [[k:Klassenherrschaft]] spielen konsensuelle Regelungsmechanismen eine zentrale Rolle, um das Entstehen von dauerhaften (Klassen-)Spaltungen zu verhindern und Gemeinwesen-Funktionen zu konsolidieren. Reine Schreckensherrschaften sind in der Regel nicht von Dauer. Dass K für die Stabilisierung von [[h:Herrschaft]] bedeutsam ist, gehört zum Gemeingut politischen Denkens. Konfuzius berichtet, Tsze-kung habe den Meister nach der wichtigsten Voraussetzung der Regierung befragt: Lebensmittel, militärische Ausrüstung oder das Vertrauen der Menschen – welche sollte man zuletzt preisgeben? Der Meister antwortete: Trenne dich von den Lebensmitteln. »Seit jeher ist der Tod das Los des Menschen. Wenn aber das Volk kein Vertrauen in die Regierung hat, kann der Staat nicht bestehen.« (//Lun-Yu//) Kaiser Caligula, dessen Lieblingswort »Oderint, dum metuant« (»Mögen sie hassen, wenn sie nur fürchten«) gewesen sein soll, hat es auf nur vier Amtsjahre gebracht, bevor ihn seine Prätorianer umbrachten. | + | I. K, Übereinstimmung, Zustimmung oder Einwilligung in Bezug auf die Organisation eines [[g:Gemeinwesen|Gemeinwesens]] und seiner Funktionen ist von grundlegender Bedeutung angesichts struktureller [[k:Konflikttheorien|Konflikt]]potenziale. In allen Gesellschaften ohne staatlich reproduzierte [[k:Klassenherrschaft]] spielen konsensuelle Regelungsmechanismen eine zentrale Rolle, um das Entstehen von dauerhaften (Klassen-)Spaltungen zu verhindern und Gemeinwesen-Funktionen zu konsolidieren. Reine Schreckensherrschaften sind in der Regel nicht von Dauer. Dass K für die Stabilisierung von [[h:Herrschaft]] bedeutsam ist, gehört zum Gemeingut politischen Denkens. Konfuzius berichtet, Tsze-kung habe den Meister nach der wichtigsten Voraussetzung der Regierung befragt: Lebensmittel, militärische Ausrüstung oder das Vertrauen der Menschen – welche sollte man zuletzt preisgeben? Der Meister antwortete: Trenne dich von den Lebensmitteln. »Seit jeher ist der Tod das Los des Menschen. Wenn aber das Volk kein Vertrauen in die Regierung hat, kann der Staat nicht bestehen.« (//Lun-Yu//) Kaiser Caligula, dessen Lieblingswort »Oderint, dum metuant« (»Mögen sie hassen, wenn sie nur fürchten«) gewesen sein soll, hat es auf nur vier Amtsjahre gebracht, bevor ihn seine Prätorianer umbrachten. |
Vertrauen in die Herrscher ist etwas anderes als bewusste, erklärte Zustimmung, sich den Gesetzen zu unterwerfen, die nach Rousseaus Vorstellung vom [[g:Gesellschaftsvertrag]] mindestens einmal einmütig (//consentement unanime//) bestanden haben muss – »denn die [[a:Assoziation]] der Bürger ist die freiwilligste [[h:Handlung]] der Welt«; niemand kann den anderen »ohne seine Einwilligung unterwerfen« (//Vom Gesellschaftsvertrag,// 1762, IV.II; 1989). Zwischen beiden Polen erstreckt sich das Bedeutungsfeld von K, mit charakteristischen Übergängen wie ›Einverständnis‹ oder ›Überzeugung‹, die sich allesamt in aktivem wie passivem Sinn gebrauchen lassen. Das verschafft dem K-Begriff seinen [[i:Ideologietheorie|ideologietheoretisch]] interessanten, doppelten Boden: Was – vorrangig im Modus der [[f:Fiktion]] – die Möglichkeit freier und gleicher Teilhabe an der rechtlich-politischen Grundgestaltung des Gemeinwesen verheißt (eine wichtige Waffe bei der [[e:Emanzipation]] der Bürger von der Feudalherrschaft), findet sich im politischen Alltagsleben der ›liberal-demokratischen‹ Regimes auf kapitalistischer Grundlage als weithin unbefragte subalterne Zustimmung zum politisch-kulturellen Projekt der führenden Kräfte innerhalb eines herrschenden <!--[-->[[m:Macht|Macht]]<!--]-->blocks. | Vertrauen in die Herrscher ist etwas anderes als bewusste, erklärte Zustimmung, sich den Gesetzen zu unterwerfen, die nach Rousseaus Vorstellung vom [[g:Gesellschaftsvertrag]] mindestens einmal einmütig (//consentement unanime//) bestanden haben muss – »denn die [[a:Assoziation]] der Bürger ist die freiwilligste [[h:Handlung]] der Welt«; niemand kann den anderen »ohne seine Einwilligung unterwerfen« (//Vom Gesellschaftsvertrag,// 1762, IV.II; 1989). Zwischen beiden Polen erstreckt sich das Bedeutungsfeld von K, mit charakteristischen Übergängen wie ›Einverständnis‹ oder ›Überzeugung‹, die sich allesamt in aktivem wie passivem Sinn gebrauchen lassen. Das verschafft dem K-Begriff seinen [[i:Ideologietheorie|ideologietheoretisch]] interessanten, doppelten Boden: Was – vorrangig im Modus der [[f:Fiktion]] – die Möglichkeit freier und gleicher Teilhabe an der rechtlich-politischen Grundgestaltung des Gemeinwesen verheißt (eine wichtige Waffe bei der [[e:Emanzipation]] der Bürger von der Feudalherrschaft), findet sich im politischen Alltagsleben der ›liberal-demokratischen‹ Regimes auf kapitalistischer Grundlage als weithin unbefragte subalterne Zustimmung zum politisch-kulturellen Projekt der führenden Kräfte innerhalb eines herrschenden <!--[-->[[m:Macht|Macht]]<!--]-->blocks. | ||
- | Die Funktionsnotwendigkeit des K sollte aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, ihn abstrakt als Gegensatz zum Zwang zu verstehen. Stattdessen geht es darum, das Zusammenwirken von Zwang und K als »dialektisches Verhältnis« (Gramsci, //Gef//) im Rahmen konkreter gesellschaftlicher Formationen zu erfassen. »Die ›normale‹ Ausübung der [[h:Hegemonie]] auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und K aus, [...] ohne dass der Zwang den K zu sehr überwiegt« (...). Die Fähigkeit, politische [[e:Entscheidung]]en auf K zu gründen, ist in ihrem Bedeutungswechsel zu untersuchen: was der Möglichkeit nach gemeinschaftliche Regelung von gesellschaftlichen Angelegenheiten, ohne Macht in Herrschaft zu verwandeln, anzeigt – die Perspektive horizontal-funktionaler Regulierung des Gemeinwesens –, ist unter Bedingungen der Klassenherrschaft in der durch [[g:Gewalt]] gestützten und diese zugleich begrenzenden Funktion zusammengezogen, die Zustimmung der Subalternen zur Herrschaft zu organisieren. | + | Die Funktionsnotwendigkeit des K sollte aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, ihn abstrakt als Gegensatz zum Zwang zu verstehen. Stattdessen geht es darum, das Zusammenwirken von Zwang und K als »dialektisches Verhältnis« (Gramsci, //Gef//) im Rahmen konkreter gesellschaftlicher Formationen zu erfassen. »Die ›normale‹ Ausübung der [[h:Hegemonie]] auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und K aus, [...] ohne dass der Zwang den K zu sehr überwiegt« (...). Die Fähigkeit, politische [[e:Entscheidung|Entscheidungen]] auf K zu gründen, ist in ihrem Bedeutungswechsel zu untersuchen: was der Möglichkeit nach gemeinschaftliche Regelung von gesellschaftlichen Angelegenheiten, ohne Macht in Herrschaft zu verwandeln, anzeigt – die Perspektive horizontal-funktionaler Regulierung des Gemeinwesens –, ist unter Bedingungen der Klassenherrschaft in der durch [[g:Gewalt]] gestützten und diese zugleich begrenzenden Funktion zusammengezogen, die Zustimmung der Subalternen zur Herrschaft zu organisieren. |
- | II. Emanzipatorische Politik zielt auf die Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen Entscheidungen, die alle betreffen, ohne Zwangseinwirkungen, also herrschaftsfrei, getroffen werden. Daher gehört K zu den Grundbegriffen einer [[b:Befreiung]]stheorie, die [[d:Demokratie]] »als gesellschaftliche Organisationsform« versteht, »die ausgerichtet ist an der regulativen Idee einer Überwindung von Herrschaftsbeziehungen« (Fisahn 2008). Als empirisch vorgefundene »regulierte Anarchie« (Weber, //WuG//) – ein Begriff, den Christian Sigrist (1971/1994) am Beispiel [[h:herrschaftsfreie Gesellschaft|herrschaftsloser Gesellschaften]] in Afrika ausgearbeitet hat – oder konkret-utopische »regulierte Gesellschaft« (Gramsci, //Gef//) ist die gemeinschaftlich-konsensuale [[k:Kontrolle]] der gesellschaftlichen <!--[-->[[l:Lebensweise, Lebensbedingungen|Lebensbedingungen]]<!--]--> »Ausgangspunkt wie Fluchtpunkt« (Haug 1993) demokratischer Umgestaltung. | + | II. Emanzipatorische Politik zielt auf die Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen Entscheidungen, die alle betreffen, ohne Zwangseinwirkungen, also herrschaftsfrei, getroffen werden. Daher gehört K zu den Grundbegriffen einer [[b:Befreiung|Befreiungs]]theorie, die [[d:Demokratie]] »als gesellschaftliche Organisationsform« versteht, »die ausgerichtet ist an der regulativen Idee einer Überwindung von Herrschaftsbeziehungen« (Fisahn 2008). Als empirisch vorgefundene »regulierte Anarchie« (Weber, //WuG//) – ein Begriff, den Christian Sigrist (1971/1994) am Beispiel [[h:herrschaftsfreie Gesellschaft|herrschaftsloser Gesellschaften]] in Afrika ausgearbeitet hat – oder konkret-utopische »regulierte Gesellschaft« (Gramsci, //Gef//) ist die gemeinschaftlich-konsensuale [[k:Kontrolle]] der gesellschaftlichen <!--[-->[[l:Lebensweise, Lebensbedingungen|Lebensbedingungen]]<!--]--> »Ausgangspunkt wie Fluchtpunkt« (Haug 1993) demokratischer Umgestaltung. |
- | Vom »Grenzfall der vollkommenen Demokratie in einem Gemeinwesen, das keinerlei gefestigte [[a:Autorität]] besitzt«, nimmt dagegen die politische Theorie von Bertrand de Jouvenel (1967) ihren Ausgang. Er insistiert darauf, dass die einstimmigen Beschlüsse, also der K einer »Lagerfeuer-Demokratie« (...), durch Verhandlungen hergestellt werden müssen. Eine Annäherung an diesen Zustand, in dem »demokratische Selbstverwaltung eine Realität ist« (...), findet er in der Politik //herrschaftsloser Gesellschaften,// wie sie die ethnologische Forschung schildert. Heute ist die K-Demokratie in nichtwestlichen Gesellschaften mindestens so weit verbreitet wie die verschiedenen Ausformungen der »Mehrheitsdemokratie«. »In non-Western societies, the local village council, the corporation, and even the national legislature will consciously and frequently make their decisions by consensus.« (Mansbridge 1983) | + | Vom »Grenzfall der vollkommenen Demokratie in einem Gemeinwesen, das keinerlei gefestigte [[a:Autorität]] besitzt«, nimmt dagegen die politische Theorie von Bertrand de Jouvenel (1967) ihren Ausgang. Er insistiert darauf, dass die einstimmigen Beschlüsse, also der K einer »Lagerfeuer-Demokratie« (...), durch Verhandlungen hergestellt werden müssen. Eine Annäherung an diesen Zustand, in dem »demokratische Selbstverwaltung eine Realität ist« (...), findet er in der Politik //herrschaftsloser Gesellschaften//, wie sie die ethnologische Forschung schildert. Heute ist die K-Demokratie in nichtwestlichen Gesellschaften mindestens so weit verbreitet wie die verschiedenen Ausformungen der »Mehrheitsdemokratie«. »In non-Western societies, the local village council, the corporation, and even the national legislature will consciously and frequently make their decisions by consensus.« (Mansbridge 1983) |
➫ [[a:Anarchismus]], [[a:Assoziation]], [[d:Demokratie]], [[e:Egalitarismus]], [[e:Einheit]], [[e:englische Revolution]], [[e:ethisch-politisch]], [[e:Ethnologie]], [[f:Faschismus]], [[f:Führung]], [[g:Gemeinwesen]], [[g:geschichtlicher Block]], [[g:geschlechtsegalitäre Gesellschaften]], [[g:Gesellschaftsvertrag]], [[g:Gewalt]], [[g:Gleichheit]], [[h:Hegemonie]], [[h:Herrschaft]], [[h:herrschaftsfreie Gesellschaft]], [[h:Hierarchie/Antihierarchie]], [[i:Ideologietheorie]], [[i:integraler Staat]], [[i:Intellektuelle]], [[k:Kirche]], [[k:Klassenherrschaft]], [[k:klassenlose Gesellschaft]], [[k:kollektives Handeln]], [[k:Kompromiss]], [[k:Konflikttheorien]], [[k:Kräfteverhältnis]], <!--[-->[[l:Legalität/Legitimität]]<!--]-->, [[l:Legitimationskrise]], <!--[-->[[l:Liberalismus|Liberalismus]]<!--]-->, [[m:Macht]], <!--[-->[[m:Manipulation|Manipulation]]<!--]-->, Neue Soziale Bewegungen, Organisieren, Parlamentarismus, passive Revolution, Pluralismus, Politik, Propaganda/Agitation, Recht, Staat, Subalternität, Unterdrückung, Unterwerfung, Volksdemokratie, Volkssouveränität, Wahrheit, Wille, Zivilgesellschaft, Zwang | ➫ [[a:Anarchismus]], [[a:Assoziation]], [[d:Demokratie]], [[e:Egalitarismus]], [[e:Einheit]], [[e:englische Revolution]], [[e:ethisch-politisch]], [[e:Ethnologie]], [[f:Faschismus]], [[f:Führung]], [[g:Gemeinwesen]], [[g:geschichtlicher Block]], [[g:geschlechtsegalitäre Gesellschaften]], [[g:Gesellschaftsvertrag]], [[g:Gewalt]], [[g:Gleichheit]], [[h:Hegemonie]], [[h:Herrschaft]], [[h:herrschaftsfreie Gesellschaft]], [[h:Hierarchie/Antihierarchie]], [[i:Ideologietheorie]], [[i:integraler Staat]], [[i:Intellektuelle]], [[k:Kirche]], [[k:Klassenherrschaft]], [[k:klassenlose Gesellschaft]], [[k:kollektives Handeln]], [[k:Kompromiss]], [[k:Konflikttheorien]], [[k:Kräfteverhältnis]], <!--[-->[[l:Legalität/Legitimität]]<!--]-->, [[l:Legitimationskrise]], <!--[-->[[l:Liberalismus|Liberalismus]]<!--]-->, [[m:Macht]], <!--[-->[[m:Manipulation|Manipulation]]<!--]-->, Neue Soziale Bewegungen, Organisieren, Parlamentarismus, passive Revolution, Pluralismus, Politik, Propaganda/Agitation, Recht, Staat, Subalternität, Unterdrückung, Unterwerfung, Volksdemokratie, Volkssouveränität, Wahrheit, Wille, Zivilgesellschaft, Zwang |