Kulturhistorische Schule

A: madrasa aṯ-ṯaqāfīya at-tāḫīrīya. - E: Cultural-historical psychology. - F: psychologie historico-culturelle. - R: kul’turno-istoričeskaja škola. - S: psicología histórico-cultural. - C: wenhualishixuepai 文化历史学派

Anna Stetsenko, Christian Wille

HKWM 8/I, 2012, Spalten 378-392

Die maßgeblich auf Lew S. Wygotskis Arbeiten aus den späten 1920er und 30er Jahren zurückgehende KhS (auch »soziokulturelle Theorie« oder »kulturhistorische Tätigkeitstheorie« genannt) ist ein auf den Spuren der Oktoberrevolution, auf den Fundamenten marxistischer Philosophie und in einer marxistischen Gesellschaftsperspektive entwickelter Theorieansatz, der Beziehungen zwischen menschlicher Tätigkeit und menschlichem Bewusstsein ausarbeitet. Die kh Theorie erfuhr am Ende des 20. Jh. eine Renaissance – nicht ohne Verwandlungen und Neuaneignungen, die sie von ihren marxistischen Wurzeln und ihrem politisch-ethischen Impetus ablösten. Die dem Mainstream sich anpassenden Weiterführungen der kh Theorie konzentrieren sich auf die Rolle der Kultur und der sozialen Interaktion für menschliche Entwicklung. Sie ist im 21. Jh. zu einem der wichtigsten Ansätze in der Entwicklungs- und Lerntheorie geworden.

Angesichts der zeitlichen Spanne und der geschichtlichen Umbrüche zwischen ihrer Entstehung und ihrer Neuentdeckung sind Bedeutung und Umwälzungsfermente der kh Theorie neu freizulegen. Die KhS eröffnet in der Geschichte der Psychologie insofern ein neues Kapitel, als sie in der dialektischen materialistischen Philosophie verankert ist und in ihren theoretischen Lehren und praktischen Anwendungen auf soziale Gerechtigkeit und Gleichheit orientiert. Diese Aufladung erklärt ihre anhaltende Anziehungskraft auf diejenigen, die emanzipatorische Theorien menschlicher Entwicklung ausarbeiten wollen. Das politische Ethos des Projekts der KhS schlägt sich praktisch nieder in Projekten zur Verbesserung der Erziehung. Ihre Untersuchungen zur ›Natur‹ des Menschen, zu den geistigen Fähigkeiten und zum Lernen verbinden sich am Ende des 20. Jh. mit der an Einfluss gewinnenden Forschung zur (situierten, kooperativen, verkörperten, verteilten) Kognition, zum partizipativen Lernen, zu Praxis-Gemeinschaften und mit den dynamischen Systemtheorien. Sie hat Bedeutung erlangt für die pädagogische und die Entwicklungspsychologie, für Organisationsanalysen, Sprach- und Kommunikationsforschung. Besondere Anwendungsschwerpunkte sind Entwicklungsprogramme für taubstumme Kinder (Mescheryakov 1979; vgl. Bakhurst/Padden 1991) und Erziehungsprogramme (Dawydow 1972; vgl. Arievitch/Stetsenko 2000). Die hier erzielten Ergebnisse verschaffen einer zentralen Auffassung der Wygotski-Schule empirische Bestätigung: dass menschliche Entwicklung sich als historisch-gesellschaftlicher Prozess vollzieht und dass alle Menschen, entgegen der Auffassung ›natürlicher‹ Begabungen oder ›nicht behandelbarer‹ Defizite, unbegrenzte Fähigkeiten haben, wenn sie Zugang zu den nötigen kulturellen Werkzeugen und soziale Unterstützung erhalten.

Aneignung, Anthropologie, Arbeit, Bedeutung, Bedürfnis, Bewusstsein, Denken, Dialektik, Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, Entwicklung, Erfahrung, Erziehung, Feuerbach-Thesen, funktional-historische Analyse, Gefühle/Emotionen, Geist, Handlung, Handlungsfähigkeit, Hirnforschung, historische Individualitätsformen, historischer Materialismus, Idealismus/Materialismus, Individualität, individuelle Reproduktion, Individuum, innen/außen, Intelligenz, Kinder/Kindheit, Kollektiv/Gruppe, kollektives Handeln, Kommunikation, Kooperation, Kopf und Hand, Kritische Psychologie, Kultur, Lernen, Materialismus (praktisch-dialektischer), Menschwerdung, Naturgeschichte, Nerventätigkeit (höhere), Neuer Mensch, Oktoberrevolution, Pawlowismus, Persönlichkeit (allseits entwickelte), Persönlichkeitstheorie, Praxis, Psychoanalyse, Psychologie, Schule, Sein/Bewusstsein, Selbstveränderung, Sinn, Sprache, Stalinismus, Subjekt, Subjektwissenschaft, Tätigkeit, Vergegenständlichung, Verhalten, Werkzeug, Wesen des Menschen, Widerspiegelung, Wille, Zeichen

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