Konterrevolution
A: ṯaurah muḍāddah. – E: counterrevolution. – F: contre-révolution. – R: kontrrevoljucija. – S: contrarrevolución. – C: fangeming 反革命
Matthias Middell (I.), Wolfgang Küttler (II.), Christof Ohm (III.)
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1661-1687
I. »K« spielt in der Dialektik von Evolution und Revolution und im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Funktionen von Reformen für die marxsche Gesellschaftstheorie eine entscheidende Rolle. Als den »Lokomotiven der Weltgeschichte« (Klassenkämpfe) widmete Marx den Revolutionen wie auch den im revolutionären Kampf agierenden Gegenkräften sowohl historische Untersuchungen (v.a. der Französischen Revolution von 1789 und den Revolutionen von 1848/49) als auch aktuelle Analysen. Zwar hat Marx das geplante Buch über die Geschichte des Jakobinischen Konvents nicht geschrieben, für das er 1842/43 eine umfassende Konspektsammlung angelegt hatte: »Marx will die Geschichte des Convents schreiben und hat das Material aufgehäuft und sehr fruchtbare Gesichtspunkte gefasst« (Arnold Ruge an Ludwig Feuerbach, 15. Mai; zit.n. Cornu 1961). Doch schlug sich die intensive Beschäftigung mit der französischen Geschichte und der zentralen Stellung der Revolution von 1789 in einer Vielzahl von Äußerungen nieder. Marx’ Kreuznacher Exzerpte (…) und Pariser Manuskripte (1843-1846) sowie die Korrespondenz mit Engels aus diesen Jahren zeigen, dass »nicht die Französische Revolution schlechthin als eine Quelle des Marxismus zu bezeichnen« ist, »sondern vielmehr jene Wissenschaften […], die sich mit ihrer Reflexion […] beschäftigen«, wobei für die Zeit von 1843-46 v.a. der »liberalen französischen Historiographie eine solche […] ›Quellen‹-Funktion« zukommt (Jaeck 1979).
Die Französische Revolution spielte als »klassische Periode des politischen Verstandes« (…) in der Frage nach dem Verhältnis von politischer und menschlicher Emanzipation eine wesentliche Rolle und blieb konstitutiv für die Ausarbeitung der marxschen Geschichtstheorie. Sie fungierte dabei zugleich als »Leitrevolution« (Kossok/Markov 1974) des »gesamten Zyklus der bürgerlichen Revolutionen« (Lenin) wie als Erfahrungsreservoir früherer revolutionärer Auseinandersetzungen (u.a. von Reformation und Bauernkrieg in Deutschland und der englischen Revolution), auf das Marx und Engels bei verschiedenen Gelegenheiten in den Diskussionen um die einzuschlagende Taktik der Arbeiterbewegung zurückkamen. In diesem umfassenden Zusammenhang kommt der K und ihrer sich im Verlauf der Revolutionsgeschichte verändernden Funktion in der marxschen Analyse v.a. der europäischen Revolutionen von 1848/49 und der ihr folgenden Entwicklungen ein zentraler Platz zu.
Für die geschichtliche Beurteilung der als konterrevolutionär betrachteten Kräfte ist allerdings die Kontroverse um Marx’ Revolutionsauffassung im Früh- und späteren Werk von Bedeutung. Dabei ist umstritten, inwieweit Marx ein einheitliches Bild der Revolution vor Augen hatte, in dem er in verschiedenen Diskussionszusammenhängen unterschiedliche Aspekte betonte (so Claude Mainfroy), oder ob eine grundsätzliche Differenz zwischen dem Schwerpunkt auf der Autonomie des Politischen in den Frühschriften und dem auf der sozialen Lage und den dieser entsprechenden Interessen im späteren Werk festzustellen sei. Letzteres behauptet François Furet (1986), der die sozialökonomische Bestimmung der Revolution zum Ökonomismus vereindeutigt, um nur das marxsche Frühwerk für die nichtmarxistische Geschichtswissenschaft zu reklamieren.
II. Seit Mitte des 19. Jh., mit der Ausprägung der Arbeiterbewegung als selbständiger revolutionärer Kraft, steht K im Zeichen der Bekämpfung moderner Revolutionen, in denen die Arbeiterbewegung als Trieb- und später Führungskraft agiert. In diesem Sinne kann sich K sowohl auf akute Gegengewalt in einzelnen Revolutionen als auch auf potenzielle Gegenkräfte in einer »Epoche der sozialen Revolution« (Marx, Vorw 59) beziehen. Insofern in den Vorstellungen von K die Revolution stets positiv, deren Gegner negativ bestimmt sind, handelt es sich um einen Kampfbegriff zur Mobilisierung der revolutionären Bewegung, der sich auf alle Gegner gleichermaßen beziehen lässt. Er verbindet sich mit der Gewissheit gesellschaftlichen Fortschritts zum Sozialismus und ist zugleich Ausdruck vielfacher Erfahrung von Gewaltausübung durch die herrschenden Klassen. Dabei zeigt sich eine zunehmende Spannung zur analytisch-theoretischen Funktion des K-Begriffs, die in den wechselnden Konstellationen des Revolutionsgeschehens eine differenzierende Sichtweise verlangt, um Risse im Lager der K zu erfassen und v.a. mögliche Bündnispartner im Ringen um gesellschaftliche Veränderungen von den Trägern repressiver Gewalt zu unterscheiden.
Eine veränderte Konstellation ergab sich mit der Entstehung einer neuen Ordnung, die aus dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution in Russland hervorging und sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem internationalen System entwickelte, »das für sich in Anspruch nahm, die historisch prädestinierte Alternative zur bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaft zu sein« (Hobsbawm 1994). K wird nun auch auf den Systemgegensatz zum Kapitalismus insgesamt und im Innern auf alle oppositionellen Kräfte, in Reaktion darauf von diesen und von den bürgerlichen Gegnern auch auf die Herrschaftsverhältnisse in der SU und anderen staatssozialistischen Ländern bezogen.
III. In den Auseinandersetzungen um die weiteren Perspektiven der Sowjetgesellschaft nach Lenins Tod mutiert ›K‹ zu einem ideologischen Instrument, das gegen alle wirklichen und vermeintlichen Gegner eingesetzt wird. Während in Stalins Werken der Ausdruck bis etwa 1934 geradezu inflationär verwendet wird, tritt er mit dem Übergang zu einer Politik der physischen Liquidierung innerer Gegner und Konkurrenten hinter deren Stigmatisierung als »Schurken«, »Schädlinge«, »Diversanten, Spione und Mörder« zurück (1937). Die Durchsetzung der Doktrin vom Aufbau des ›Sozialismus in einem Land‹, das von inneren und äußeren Feinden bedroht ist, lässt jede Art von Kritik am Kurs der Parteiführung als Verrat erscheinen.
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