Klassenanalyse

A: taḥlīl ṭabaqī. – E: class analysis. – F: analyse de classe. – R: klassovyj analiz. – S: análisis de clase. – C: jieji fenxi 阶级分析

Helmut Steiner

HKWM 7/I, 2008, Spalten 776-786

K‹ bezeichnet den Bereich der Gesellschaftsanalyse, in dem die vertikale und horizontale sozialstrukturelle Gliederung der Gesamtbevölkerung nach sozialökonomischen und, darauf aufbauend, macht- und herrschaftspolitischen sowie kulturell-habituellen Unterscheidungskriterien in ihrem wechselseitigen Bedingungsgefüge untersucht wird, und die diesbezüglichen theoretische Voraussetzungen, Methodologie und heuristische Verfahren. Dass die K seit dem 19. Jh. zu den zentralen Problemen der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und Methodologie gehört, resultiert aus dem Widerspruch zwischen behaupteter Gleichheit und realer Klassenspaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sowie den theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat.

Wenngleich Marx und Engels in der für ihre Gesellschaftsanalyse und die geschichtliche Orientierung der Arbeiterbewegung zentralen Frage von Klassenstruktur und Klassenkampf keine zusammenhängende Darstellung vorlegten, bestimmt das Klassenkonzept ihr gesellschaftstheoretisches Gesamtwerk. Das gleiche trifft auf Lenin zu, mit der Spezifik, dass die politisch-agitatorischem Anliegen geschuldete Definition von Klasse (…) von der Rezeption in den Mittelpunkt gerückt (und in der Komintern sowie vom ML im Staatssozialismus kanonisiert) wurde und die das Gesamtschaffen durchziehende Analyse von Klassen- und Sozialstrukturen demgegenüber geringere Beachtung fand. – In der II. Internationale belebte die Revisionismus-Kontroverse an der Wende vom 19. zum 20. Jh. zwar den klassentheoretischen Diskurs; die von ihm ausgehenden Impulse zur Weiterentwicklung der Klassentheorie waren jedoch vorrangig auf die deutsche Sozialdemokratie und den Austromarxismus begrenzt. Differenzierte und impulsgebende Untersuchungen von Klassen, Schichten und sozialen Gruppen wie durch Gramsci erreichten erst nach 1945 die Öffentlichkeit, und auch dann lange Zeit nur selektiv.

Die zwischen Unverständnis des Marxismus und Feindschaft gegen ihn schwankende institutionalisierte bürgerliche Forschung und Lehre drängt seit dem ausgehenden 19. Jh. die Rezeption der marxschen Klassentheorie und K ab in örtlich, institutionell, zeitlich sowie individuell bzw. auf spezielle Gruppen begrenzte Rahmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in Westeuropa unterm Einfluss der USA eine antimarxistisch ausgerichtete Grundlagendiskussion ein, verbunden mit breiten empirischen Untersuchungen und der Ausarbeitung einer Vielfalt methodologischer, methodisch-technischer Instrumentarien und theoretischer Operationalisierungen wie Stratifikations-, Mobilitäts-, Prestige- und anderen subjektiven Struktur-, Herrschafts- und Elitetheorien. In der BRD erfolgte eine ›fünffache Abschaffung der Klassen‹ durch: 1. Helmut Schelskys (1953) These von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«; 2. die Konflikttheorie und die Transformation der Klassen in »Konfliktgruppen« bei Ralf Dahrendorf (1957); 3. Daniel Bells (1973) Proklamation der »nachindustriellen Gesellschaft«; 4. das »Jenseits von Marx und Weber« bei Ulrich Beck (1983) u.a. mit den Thesen des Strukturbruchs, der Klassenerosion, der Pluralisierung, Dezentrierung und Individualisierung; 5. die Entdeckung »neuer sozialer Ungleichheiten«, abgeleitet aus Milieu, Lebenssituation u.a. Momenten, wodurch stabile Strukturen wie Klassen und Schichten sozialökonomisch hochgradig unbestimmt bleiben (vgl. Ritsert 1998).

Im Gegenzug fand seit den 1960er, verstärkt in den 70er Jahren in Westeuropa und in den USA eine innovative marxistische und darüber hinausgehende linksalternative Sozialstruktur- und Klassendiskussion statt – bspw. IMSF, Klassen- und Sozialstruktur der BRD 1950-1970; Projekt Klassenanalyse und Projektgruppe Automation und Qualifikation an der FU Berlin, ferner die Arbeiten von Eric Olin Wright, Nicos Poulantzas, Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden u.a.m.

Die von der neoliberalen Globalisierung bewirkte Vertiefung sozialer Spaltungen der Gesellschaften, stratigrafischer Umbrüche und Verwerfungen gibt der K zu Beginn des 21. Jh. einen zunehmenden Stellenwert sowohl in Diskursen gesellschaftsprognostischer Ausrichtung als auch bei der Formulierung gegenhegemonialer Bündnisse und Strategien.

Angestellte, Antagonismus, Arbeiteraristokratie, Arbeiterbewegung, Arbeiterklasse, Arbeitsteilung, Austromarxismus, Automation, Bauern, Bestimmung, Determination, Bourgeoisie, Bürokratie, Diktatur des Proletariats, Dorfgemeinschaft, Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, Ethnie/Ethnizität, Exklusion, Faschismus, Geschlechterverhältnisse, Gesellschaft, Habitus, Herrschaft, Ideologiekritik, Imperialismus, Industrialisierung, Industriegesellschaft, Kapital, Kapital-Editionen, kapitalistische Produktionsweise, Klasse an sich/für sich, Klassenherrschaft, Klassenkampf, Klassenlage, klassenlose Gesellschaft, Kleinbürger, Komintern, Kultur, kultureller Materialismus, Lebensweise/Lebensbedingungen, Macht, Monopolkapital, Ökonomismus, Pariser Kommune, Produktion, Produktionsverhältnisse, Produktivkräfte, Proletariat, Reproduktion, Revisionismus, ursprüngliches Gemeinwesen, Weltmarkt

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