Mitteleuropastrategien

A: istrātīǧīyāt ’ūrubbā al-wusṭā. – E: strategies for Central Europe. – F: stratégies pour l’Europe centrale. – R: strategii dlja Central’noj Evropy. – S: estrategias para Europa Central. – C: Zhōng’ōu zhànlüè 中欧战略

Mehmet Can Dinçer

HKWM 9/II, 2024, Spalten 1114-1131

M bezeichnen Pläne der deutschen Bourgeoisie, die Hegemonie auf dem europäischen Kontinent zu erringen. Geographisch geht es ungefähr um die Region, die mit »von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt« im Lied der Deutschen besungen worden ist und im 19. und 20. Jh. zum Projektionsraum für die Weltmachtambitionen des deutschen Imperialismus wurde. Was einzelne Akteure zu bestimmten Zeiten unter ›Mitteleuropa‹ verstanden haben, variiert allerdings beträchtlich und greift v.a. in südöstlicher Richtung teilweise auf Gebiete aus, die außerhalb dieses geographischen Rahmens liegen.

Vor dem Hintergrund der revolutionären Welle von 1848 sehen Marx und Engels in einer »einigen, unteilbaren, demokratischen deutschen Republik« die Möglichkeit einer Vereinigung der revolutionären Kräfte und in der »Vereinigung Deutschlands zu einer Nation« wiederum den am besten geeigneten »Kampfplatz […], auf dem Proletariat und Bourgeoisie ihre Kräfte messen sollten« (21/19f). Schon 1859 notiert Engels die Tendenz zum reaktionären expansiven Nationalismus, der »aus Österreich, Preußen und dem übrigen Deutschland einen Bundesstaat […] errichten, Ungarn und die slawisch-rumänischen Donauländer durch Kolonisation […] germanisieren […] und nebenbei auch Elsass und Lothringen wiedererobern möchte. Die ›mitteleuropäische Großmacht‹ soll eine Art Wiedergeburt des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation sein«; würde diese Großmacht tatsächlich entstehen, wäre »Deutschland der Schiedsrichter und Herr Europas«, der »binnen kurzem die Weltherrschaft zu Wasser und zu Lande an sich reißt« (Po und Rhein, 13/228f).

Im Zuge der Entwicklung des sich zentralisierenden Kapitals entfalten sich M ab 1871 mit besonderer Ausrichtung auf Südosteuropa als erweitertem Großwirtschaftsraum und in einer zweiten Stoßrichtung auf Westeuropa. Um wirksam werden zu können, bedürfen sie zugleich einer »Ideologisierung der Expansionsziele« (Bennhold 1997, 1014). Sie sollen dem ›verspätet‹ zu den etablierten Großmächten aufsteigenden Deutschen Reich als Sprungbrett zur Weltpolitik dienen. Mit »dem Ringen des deutschen Kapitals um einen eigenen Entwicklungsfreiraum gegenüber der überlegenen englischen Konkurrenz« ist untrennbar das »Motiv verknüpft«, »selbst solch ein Stärkerer zu werden, der sich Schwächere unterwerfen kann« (Opitz 1977, 29).

Nachdem diese Ambitionen bereits im Ersten Weltkrieg gescheitert sind, besiegelt die Niederlage im Zweiten Weltkrieg endgültig das Ende der von einem großdeutschen mitteleuropäischen Reich ausgehenden Weltmachtambitionen. Diese Zäsur bedeutet aber nicht das Ende expansiver Strategien des deutschen, mehr und mehr internationalisierten Großkapitals, ab 1945 nun mittels des atlantischen Bündnisses der NATO und der (west)europäischen Integration. Nach 1990 kehrt einerseits »das alte Ungleichgewicht« wieder, »das Europa nach der deutschen Vereinigung von 1871 destabilisiert hatte«, denn »Deutschland stieg erneut zur dominanten Macht in Europa auf« (Kagan 2019, 69). Andererseits hat sich die globale Konstellation verändert: Die wiedergewonnene Vormachtstellung in Europa gründet sich zwar noch immer auf das mitteleuropäische Kerngebiet, ist aber – unter nunmehr räumlich und strukturell veränderten globalen Konkurrenzverhältnissen bes. gegenüber Russland und China – militärisch und politisch nur noch im Rahmen der EU und der von den USA geführten NATO möglich.

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m/mitteleuropastrategien.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/05 23:01 von christian     Nach oben
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