Materialismus, praktisch-dialektischer
A: al-māddīya al-ǧadalīya al-ʽamalīya. – E: practical-dialectical materialism. – F: matérialisme pratique-dialectique. – R: praktičeskij-dialektičeskij materializm. – S: materialismo práctico-dialéctico. – C: shíjiàn biànzhèng wéiwù zhǔyì 实践辩证唯物主义
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 9/I, 2018, Spalten 216-237
Der aus drei Grundbegriffen zusammengesetzte Term pdM gilt der Neuartigkeit des marxschen Materialismus. Diese wurde zum ersten Mal von Antonio Labriola in seinen Saggi zur materialistischen Geschichtsauffassung – einem »neuen Genre, zwischen der Randglosse zum Text von Marx und Engels und der autonomen Entwicklung der Theorie« (Burgio 2012) – auseinandergelegt. Als Gemeinplatz gilt, Labriola sei nur »als Philosoph des Sozialismus – nicht als Akteur« aufgetreten (v.Beyme 2013, 296). Dagegen hat Roberto Carocci (2016) seine unerschrockenen, oft unter tumultuösen Umständen erfolgten Auftritte und programmatischen Eingriffe in den von anarchistischem Aktivismus umgetriebenen Anfängen der sozialistischen Arbeiterbewegung Italiens nachgezeichnet, die ihn auch mit dem Staat in Konflikt brachten. Labriolas Erläuterung führt zunächst aufs Terrain des von Marx im Vorfeld der Arbeit an der Deutschen Ideologie anvisierten »neuen« Materialismus (ThF 10, 3/7).
Diesen situieren Marx und Engels in der DI (in deren Manuskript letzterer Labriola allerdings keine Einsicht gewährte, deren Grundlinien diesem aber intuitiv klar waren) in der »Wissenschaft der Geschichte« im weiten, die Geschichte der Natur und der Menschen in ihrer jeweiligen Spezifik und asymmetrischen Wechselwirkung umfassenden Sinn; daher gilt sie ihnen als die letztlich »einzige Wissenschaft«, in die alle anderen historischen Sachgebiete sich auflösen (3/18). Im Sinne der Feuerbach-Thesen, Marx’ Selbstverständigungstext, den Engels erst 40 Jahre später, in Marx’ Nachlass, zu Gesicht bekommen hat, konkretisieren die beiden Autoren ihren neuen Materialismus im Gegensatz zum »anschauenden« (vgl. ThF 9, 3/7) als »praktischen« Materialismus (3/42). Als dessen Labor verstehen sie das Gesamt der Tätigkeiten, bei denen es darum geht, »die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern« und letztlich »die bestehende Welt zu revolutionieren« (ebd.).
Mit der Verbindung von Praxisanalyse und Geschichtstheorie ist ein entscheidender Schritt zur theoretischen Grundlegung des »neuen« Materialismus getan. Seine Reichweite wird im Kontrast zum Selbstwiderspruch deutlich, in den der sowjetisch geprägte ML durch eines seiner philosophischen Axiome geführt worden ist: Da Lenin in ME die Materie erkenntnistheoretisch als dasjenige bestimmt, was »außerhalb« des Bewusstseins und »unabhängig« von diesem existiert (LW 14, 46 u.ö.), soll vom Materiebegriff gelten, dass er »nur durch sein Verhältnis zum Begriff ›Bewusstsein‹ bestimmt werden« kann (Buhr/Kosing 1974, 182). Falsch ist nicht so sehr diese Bestimmung, als vielmehr der Boden, auf dem sie gegeben wird. Es ist dies einer der Fälle, in denen Kritik auf dem Boden des Kritisierten verharrt und von diesem hinterrücks bestimmt bleibt, so dass »die neuen Behauptungen […] ohne Bezug auf die alten […] nicht der Erfahrung einverleibbar« sind (Brecht, GA 21, 427; GW 20, 177). Die neuen Begriffe sind »dann oft für den eigentlichen Gebrauch […] verdorben« (ebd.). Vom Bewusstsein als dem archimedischen Punkt auszugehen, verharrt »auf dem Boden des […] Idealismus und dessen Struktur«, um dort die »Entscheidung gegen den Idealismus anzustrengen«, der jedoch auf seinem eigenen Boden »alle Heimvorteile [genießt]« (Haug 1978, 193). Der marxistisch »eigentliche Gebrauch«, von dem Bertolt Brecht spricht, verlangt einen anderen Einstieg. Diesen gewährt die Praxis, sobald ihr Begriff sowohl aus den idealistischen Transpositionen ins dualistisch abgehobene ›Geistige‹ als auch aus der pragmatistischen Kurzatmigkeit auf den Boden der geschichtsmaterialistischen Philosophie der widersprüchlichen Lebenspraxis geholt wird.
Auf diesem Weg baut Marx in der Arbeit an der Kritik der politischen Ökonomie die hegelsche Dialektik im modus operandi seiner Forschung und Darstellung schubweise ins Materialistische neuen Typs um. Während die vom Bewusstsein ausgehende Position in metaphysischen Materialismus einmündet, lässt die marxsche, der materiellen Praxis in ihre Widersprüche und Bewegungsformen folgende Herangehensweise sich mit Labriola als »genetische, evolutive oder dialektische Auffassung« begreifen (ÜhM, 181) oder kurz als »praktischer (dialektischer) Materialismus« (Haug 1973, 561) fassen. Zu zeigen ist, dass er erst als solcher historischer Materialismus wird.
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