multikulturelle Politiken
A: siyāsāt mutaʽaddida aṯ-ṯaqāfāt. – E: multicultural policies. – F: politiques multiculturelles. – R: mul’tikul’turnye politiki. – S: políticas multiculturales. – C: duōyuán wénhuà zhèngcè 多元文化政策
Thomas Geisen (I.), Ruedi Graf (II.)
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1562-1581
I. MP entstehen ab den 1970er Jahren als Reaktion auf die Zunahme gesellschaftlicher Heterogenität im Zuge von Dekolonialisierung, internationaler Migration und Globalisierung. Ihr Ziel ist es, Spannungen zu entschärfen und sozialen Zusammenhalt zu stärken. MP reagieren auf Forderungen sowohl von traditionellen Minderheiten – wie den First Nations bzw. Autochthon Peoples in Kanada oder den Aborigines, in Selbstbezeichnung Blackfellas, in Australien – als auch von neuen, durch Migration entstandenen Minderheiten nach demokratischer Teilhabe sowie kultureller und politischer Selbstbestimmung. Staatliche Maßnahmen richten sich dabei auf den Erhalt des u.a. in Sprache und Religion sedimentierten ›kulturellen Erbes‹ dieser Gruppen und wenden sich von Politiken der Assimilierung ab, die auf die Auflösung von Minderheiten in der Mehrheitsgesellschaft zielen.
Die Kritik an solchen mP wirft diesen v.a. im Namen des westlichen Universalismus vor, traditionelle, anti-demokratische Gemeinschaften zu legitimieren und zu unterstützen, die ihre Mitglieder kollektiven Zwängen unterwerfen, die patriarchale, frauenfeindliche, rassistische, religiöse und gewalttätige Merkmale aufweisen können. MP stehen also im Spannungsfeld zwischen Forderungen nach Partizipation und Selbstbestimmung auf der Grundlage sozial-kultureller Partikularismen und Forderungen nach einem ungeteilten Universalismus. Im Zuge der Debatte um die »Dekolonialisierung von Sein und Wissen« (Mignolo 2010/2012, 188) wird gegen »die abstrakten okzidentalen Universalien (Christentum, Liberalismus und Marxismus)« (76) daher »die Realisierung einer Pluriversalität als universelles Projekt« gefordert (56).
Seit den 1990er Jahren geraten mP zunehmend in die Defensive und es kommt zu ihrer ›Auflösung‹ in Richtung Integration bzw. staatlicher, unternehmenskultureller und zivilgesellschaftlicher Diversitätsansätze und -politiken. Die fortexistierende »multikulturelle Geselligkeit [conviviality] inmitten der Trümmer des Rassismus« (Back/Sinha 2018, 125) bringt aber auch Umarbeitungen und widerständige Neuaneignungen von mP hervor.
II. Lateinamerika. – Die Diskussion um mP in Lateinamerika kam erst in den 1990er Jahren in Reaktion auf den Aufschwung der Indigenenbewegung in Gang. Der Moment war geprägt von einer Ausdehnung und Vertiefung neoliberaler Politik, die auf wachsenden Widerstand traf. So äußerten indigene Bewegungen in zahlreichen Staaten ihren Protest gegen die offiziellen Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der ›Entdeckung‹ Amerikas, der am 12. Oktober 1992 in der Umwandlung des sog. Día de la Raza (Tag der ›Rasse‹) in den Tag des indigenen, schwarzen und popularen Widerstands gipfelte. Sichtbar vor der Weltöffentlichkeit wurde der Widerstand, als am 1. Januar 1994 – dem Tag, an dem das gegen die Interessen der oft indigenen Kleinbauern gerichtete Freihandelsabkommen NAFTA zwischen den USA, Kanada und Mexiko in Kraft trat – der bewaffnete Aufstand der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) in Chiapas begann.
Die multikulturelle Frage ist auch in Lateinamerika nicht von der Geschichte der Kolonisierung und Dekolonisierung zu trennen (Hall 2000/2004, 191f). Sie wurde allerdings bis in die 1990er Jahre kaum unter diesem Begriff diskutiert; stattdessen wurden die mit ihr zusammenhängenden Themen teilweise in den Diskursen über »créolité« bzw. »Kreolisierung« (2003/2015, 12), »kulturelle Mestizaje« (Echeverría 1995/2021, 211; Übers. korr.) oder die von José Carlos Mariátegui auf die »Verteilung des Grundbesitzes« zurückgeführte Indigenenfrage (Sieben Versuche, 35) behandelt. Die unterschiedlichen Diskurs-Bezeichnungen verweisen dabei auf geschichtliche Realitäten in den einzelnen Ländern, die aus der jeweiligen Eroberungs- und Einwanderungsgeschichte und den verschiedenen Peuplierungspolitiken hervorgehen. Während in Zentralamerika und der Andenregion das indigene Element stark blieb, wurde es in den Plantagengesellschaften der Karibik, Brasiliens und Kolumbiens, in denen schon bald alle »von ›woanders‹ kamen« (Hall 2003/2015, 18), verdrängt und teilweise oder – wie in der Karibik – ganz ausgerottet. An die Stelle der Indigenen traten in den Plantagengesellschaften vorwiegend aus Westafrika eingeführte Sklaven, die sich später mit der stark dezimierten indigenen Bevölkerung sowie armen Weißen mischten.
In ganz Lateinamerika wurde nach den Unabhängigkeitskriegen die ethnische und kulturelle Mischung von einem an europäischen Mustern orientierten Prozess des nation building überlagert, in dessen Verlauf sich eine »neue Herrscherklasse« herausbildete, die »sich systematisch seines [des Indios] Landes bemächtigte« (Sieben Versuche, 44). Gleichzeitig änderte sich mit der Modernisierung und Industrialisierung sowie der Abschaffung der Sklaverei die gesellschaftliche Basis des ›Kreolenstaates‹ aus der Zeit der Unabhängigkeitskriege, in dem die im Lande geborenen Nachfahren von spanischen, später allgemein europäischen Einwanderern die herrschende Klasse bildeten. Im 19. und 20. Jh. sollte durch eine oft rassistisch geprägte Peuplierungspolitik, die die europäische Einwanderung in wirtschaftlich noch relativ unerschlossene Regionen förderte, sowohl die schwarze als auch die indigene Bevölkerung zurückgedrängt werden, um die Gesamtbevölkerung langfristig ›aufzuhellen‹ (span. blanqueamiento, port. branqueamento).
Die Gesellschaften Lateinamerikas erweisen sich so als unentwirrbar multikulturell – ethnisch, religiös und sprachlich. Ihre ›Einheit‹ erhalten sie jeweils durch die Machtverhältnisse, die darüber bestimmen, ob und wie rassifizierte, ethnifizierte oder kulturalisierte Konflikte artikuliert, verschärft oder abgemildert werden.
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