Materie

A: mādda. – E: matter. – F: matière. – R: materija. – S: materia. – C: wùzhì 物质

Wolfgang Fritz Haug

HKWM 9/I, 2018, Spalten 281-307

Dass »M« zu einem »der wichtigsten philosophischen Begriffe überhaupt« erklärt werden konnte (Psarros 1999, 808), scheint erst recht für alle Formen des Materialismus zu gelten, die ja ihren Namen davon ableiten, folglich auch für den Marxismus. Denn dessen Namensgeber kündigt in seinen Thesen »ad Feuerbach« (3/5), die der Sache nach Materialismus-Thesen genannt werden könnten, seine Theorie als einen »neuen« Materialismus an (7). Neu daran soll zum einen sein, dass er im Gegensatz zum sensualistischen Materialismus der Erkenntnistheorie »die Sinnlichkeit […] als praktische Tätigkeit begreift«; zum andern, dass sein Standpunkt nicht mehr derjenige der durchs Privateigentum isolierten Individuen ist, sondern »die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit« (ebd.). In diesem Sinn, der seine jahrzehntelange Arbeit an der Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus orientiert, spricht Marx im Nachwort zur 2.A. von K I (mit Rückverweis auf Vorw 59) von der »materialistischen Grundlage meiner Methode« (23/25). Damit ist das Terrain bezeichnet, von dem aus der »neue« Materialismus seine gesellschafts- und geschichtstheoretischen Begriffe bilden wird. Die M-Kategorie, die beim 23-jährigen Marx in den Vorarbeiten zur Dissertation über den altgriechischen Materialismus noch wichtig war, spielt bei ihm später, sieht man von den Passagen zur Geschichte des Materialismus in der HF ab, keine besondere Rolle mehr.

Die materialistische Adresse des protomarxistischen Marx ist das »Materielle«, dessen zu analysierende Eigenständigkeit er gegen die hegelsche Hypostasierung des Ideellen in Stellung bringt (23/27). Nicht anders verhält es sich noch im »historischen Materialismus« der ersten Generation, wie er sich 1893 bei Franz Mehring und 1896 bei Antonio Labriola darstellt.

Anders bei Lenin. Dieser schließt an Georgi W. Plechanow, seinen philosophischen Lehrer an, der Marx die »Erkenntnistheorie« Ludwig Feuerbachs zuschreibt, allenfalls »entwickelt und vervollständigt« (1908/1929, 23). Derartige »offensichtliche theoretische Mängel Plechanows finden sich bei Lenin wieder, etwa die Gleichstellung von Erkenntnisobjekt und M [LW 14, 124ff], was später das philosophische Denken im ML arg behinderte« (Dieter Wittich, »Materialismus und Empiriokritizismus«, HKWM 9/I, 242). Der ML wiederum folgt Lenin und erklärt den M-Begriff einerseits zur »Grundkategorie, die dem gesamten theoretischen System der marxistisch-leninistischen Philosophie zugrunde liegt«, andererseits, im »Unterschied« zu »dem des mechanischen Materialismus«, zum »erkenntnistheoretischen Begriff (Kröber 1974, 773). Thomas Metscher bestimmt dagegen die Position des ML dahingehend, dass sie »in M oder Natur das im ontologischen Sinn Erste und Ursprüngliche anerkennt« (2015, 44). Hier warnt wiederum Engels: »Die M als solche ist eine reine Gedankenschöpfung […], ist also nichts Sinnlich-Existierendes.« (20/519) Von der Natur ließe sich das schwerlich sagen. Somit verlangt auch Metschers Doppelbenennung »M oder Natur« (2015, 44) sowie, vollends zusammengeschrieben, »M/Natur« (48) nach Klärung, zumal der Naturbegriff auf eine andere Frage zu antworten scheint als der M-Begriff. Kurz, der Zusammenhang all dieser Bestimmungen bedarf ebenso der Analyse wie ihr Verhältnis zu Marx und zum klassischen Marxismus.

Zieht man nun gar die Wortgeschichte hinzu, deutet die ursprüngliche Bedeutung von ›M‹ (lat. materia, »Bauholz«) auf eine bild-metaphorische Herkunft, die begriffsgeschichtlichen Klärungsbedarf signalisiert. Wer von M redet, ist gut beraten, die metaphorische Herkunft dieser Kategorie mitzudenken und zugleich über sie hinauszugehen zur Prozess-M, der das Treibende innewohnt und die der natura naturans entspricht.

Zu prüfen ist, ob sich das, was Lenins M-Kategorie leisten soll, nämlich die Objektivität der Erkenntnis und die Materialität der Existenz zu gewähren, kohärent gemäß den Kriterien des marxschen neuen Materialismus aufweisen und gegen Objektivismus wie Subjektivismus abgrenzen lässt, ohne auf Glaubens- und Anerkennungsakte zurückzugreifen.

Der Versuch, all dem gerecht zu werden, führt auf ein Feld voller dialektischer Überraschungen, angefangen mit der Prägung des M-Begriffs durch den altgriechischen Idealismus, während der antike Materialismus seiner nicht bedurfte.

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m/materie.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/11 13:45 von christian     Nach oben
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